Droben in einem kleinen Tal unseres Landes lebte eine arme Familie. Es waren Vater, Mutter, viele Kinder und wenig zum Essen und zum Kleiden. Ganz zornig stand eines Abends die Frau vor der Haustüre und blickte neidisch auf das Haus ihres wohlhabenden Nachbarn. Da kommt ein Herr im grünen Kleid auf sie zu und sagt: »Wenn Ihr mir das geben wollt, was Ihr in Eurem Schoß tragt, will ich Euch so viel Geld herbeischaffen, als Ihr wollt.«
Die dumme Frau dachte, der Herr in Grün wolle die Holzkohle, die sie in der Schürze trug, und hat es ihm versprochen.
Später hat sie alles ihrem Mann erzählt, und auch dieser musste lachen ob des Herrn im grünen Gewand. Nach einiger Zeit hat die Frau einen hübschen Knaben geboren, und sie haben als Paten einen alten Einsiedler und als Patin die Frau eines Schlosses in der Nachbarschaft. Am Abend jenes Tages ist der Herr in Grün gekommen und hat eine Börse voll Gold auf den Tisch gelegt und zum Vater gesagt, in sieben Jahren werde er kommen, um den Jungen zu nehmen, den ihm die Frau versprochen habe. Erst jetzt haben die guten Leute erkannt, wer der Herr im grünen Gewand war und was er gemeint hatte, als er von der Frau das erbeten habe, was sie in ihrem Schoß habe. Ganz betrübt haben sie sich bei ihrem Gevatter, dem frommen Einsiedler, beklagt und haben gejammert. Dieser aber hat sie getröstet und gesagt, sie sollen den Jungen nur gut erziehen, wie es sich gehöre, und ihn, wenn er fünfjährig geworden sei, zum Paten schicken. Gesagt, getan; nach fünf Jahren haben die Eltern das Patenkind zum Paten geschickt. Mit großem Eifer hat der gute Einsiedler den Knaben gelehrt, aus alten Büchern und in fremden Sprachen zu lesen, und später, als die sieben Jahre vorüber waren, hat er dem Patenkind befohlen, hinaufzugehen, dorthin, wo zwei Wege sich kreuzten, und dort in einem alten Buch, das er ihm gab, zu lesen, aber nie aus dem Buch aufzuschauen, geschehe was auch immer geschehen möge. Dann hat er ihm ein Buch, so alt wie Methusalem gegeben, das in Pergament gebunden war, und hat ihn dorthin geführt, wo sich zwei Straßen kreuzten. Dort hat der Junge zu lesen begonnen und hat gelesen und gelesen, lang und ausdauernd. Unterdessen aber hörte er singen und spielen und tanzen, als zöge der Hexensabbat vorbei. Da schaute er vom Buch auf, und im gleichen Augenblick hat ihn ein Adler mit seinen Krallen gepackt. Zum Glück aber hatte der Junge das Buch mit sich nehmen können und las darin immerzu. Darum hat ihn der Vogel aus dem Schnabel fallen lassem müssen, und er ist, ohne zu wissen, wie ihm geschah, auf den Julierberg gefallen.
Dort auf dem Julierberg waren drei Gletscherjungfrauen, die ein prächtiges Schloss hatten. Sie haben den Kleinen gefunden und haben ihn in ihren Glaspalast geführt. Mit diesen drei gütigen Gletscherjungfrauen hat er schöne Tage verlebt, und als ihm der Bart wuchs, hat er sich in die jüngste und schönste der drei Gletscherjungfrauen verliebt. Dieser hat der schöne Jüngling auch gefallen, und bald sollten sie Hochzeit halten.
Vorher wollte der junge Mann aber nochmals die guten alten Eltern und seinen Paten und die Patin besuchen. Mit Tränen auf den Wangen hat er Abschied genommen von seiner Braut, die ihm einen Ring mit einem kostbaren Stein gegeben und gesagt hat:
»Wenn du diesen Stein in der Richtung drehst, in der ich wohne, muss ich erscheinen, dreh ihn aber um Gottes willen nicht aus Übermut!«
Indem er dankte, hat er versprochen, das Geschenk nicht zu missbrauchen, und ohne dass er wusste, wie ihm geschah, ist er zu Hause bei den Seinen und bei seiner Patin gewesen. Diese hatte große Freude an ihrem Patenkind, das ein prächtiger Jüngling geworden war, und hat ihm ihre feine Tochter als Braut angeboten. Er aber hat über dieses Geschenk nur gelacht und hat gesagt, er habe eine viel schönere Braut. Ohne zu überlegen, hat er den Ring gedreht, und schon ist die Gletscherjungfrau, seine Braut, gekommen, weiß wie eine Lilie, aber erzürnt und mit drohender Gebärde.
Dann haben sich die beiden auf den Weg gemacht, um wieder zum Julierberg zurückzukehren. Am Abend haben sie in einem Hospiz Quartier bezogen, und nachts hat die böse Gletscherjungfrau dem Bräutigam den Ring vom Finger gezogen und ist verschwunden. Verärgert und traurig fand sich der Bräutigam am ändern Morgen ohne Ring und ohne Braut.
Mutig wie er war, hat er sich aber auf den Weg gemacht, um den Julierberg zu suchen. Alle Leute, denen er begegnete und die er nach dem Julierberg fragte, lachten ihm aber ins Gesicht und sagten, sie hätten nie von einem solchen Berg gehört.
Eines Abends spät ist der Jüngling in einen dunklen Wald gekommen, und müde wie er war, hat er sich auf einen Baumstrunk gesetzt und hat geweint. Da kommt ein Mann, so alt wie Brot und Brei und mit einem langen weißen Bart, zu ihm und sagt:
»Warum weinst du, mein Junge?«
»Ach, ich suche den Julierberg, die drei Mädchen, so weiß wie Lilien, und den Kristallpalast!«
»Das ist weit weg«, antwortet der Alte, »aber da hast du einen Schuh, und mit jedem Schritt, den du in diesem Schuh machst, gehst du drei Stunden weit. Ich bin der Nordwind.«
Daraufhin hat der Nordwind geblasen und hat den Jüngling drei Stunden weit in den Wald hineingetragen. Dort stand neben einer Höhle ein Mann, alt wie die Steine, mit grauem Haar und weißem Bart.
»Ich bin der Westwind«, hat der gesagt, »und ich weiß schon, warum du gekommen bist, und bin bereit, dir zu helfen. Da hast du einen Hut, der dich unsichtbar macht!« Mit heißem Dank hat der Jüngling das kostbare Geschenk entgegengenommen, und der Alte hat geblasen, so dass der Westwind den Jüngling drei Stunden weiter in den Wald hineingetragen hat.
Vor dem Jüngling stand dort ein Mann mit zerzaustem Bart und verwittertem Haar, aber sonst noch rüstig. »Was du suchst, ist dort oben, über dieser Felsenwand«, hat der Mann gesagt, »und dort hinauf vermögen dich weder der Nordwind noch der Westwind zu tragen. Ich aber bin der Föhn und habe in den Bergen alle Macht. Nimm diesen Stab, und wenn du ihn drehst, bist du droben über der Felswand!« Der Jüngling hat dem Stab eine feste Drehung gegeben, und im gleichen Augenblick hat ihn der Föhn über die Felswand geschleudert.
Aus dem Schloss der Gletscherjungfrauen, das nicht weit weg war, hörte man Musik und Tanz. Schnell hat der Jüngling den Hut des Westwindes aufgesetzt und ist in den Kristallpalast hineingegangen. Dort hat er seine Braut gesehen, wie sie, bereit, Hochzeit zu feiern, mit einem ändern zu Tische saß. Rasch entschlossen hat der Jüngling sich angeschickt, alles wegzuessen, was auf den Teller der Braut kam. Darob ist diese sehr erschrocken und ist auf ihr Zimmer geeilt. Der Jüngling hinter ihr her. Im Zimmer aber hat er den Hut vom Kopf genommen, und da hat ihn die Braut gesehen. Die alte Liebe hat gesiegt, und als sie hinuntergingen zu den Dienern, hat die Gletscherjungfrau ihnen folgende Frage gestellt: »Wenn einer einen Schlüssel verloren habe, einen neuen habe machen lassen, den alten aber wieder finde, welchen er wohl benutzen werde?«
»Den alten!« haben die Diener einstimmig erklärt. Darauf hat sie erzählt, wie es mit ihr ergangen war, und am gleichen Tag wurde die Hochzeit mit dem ersten Bräutigam gefeiert.
Ich habe beim Hochzeitsessen die Suppe aufgetragen, und da haben sie mir einen Tritt in den Hintern gegeben, dass ich bis daher geflogen bin.
Quelle: Götz E. Hübner und Sigrid Früh, Von Gletscherjungfrauen und Erdmännlein, Fischer TB, nach Caspar Decurtius, Märchen aus dem Oberlande(Graubünden), Zürich 1874
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.