«Die Geschichte ist mehr als wahr», sagte mein Grossvater, wenn er sie erzählt hatte, «ich brauch sie niemandem nachzureden, denn ich hab das Gespenst mehr als einmal selber gesehen.»
Das Nachtfräuli war ein seltsames Geschöpf, das aussah wie Nebel, war aber ein junges, hübsches Fräulein mit langen Haaren, das über die Wiesen daher geschwebt kam und durch alle Gärten zur Bündgasse lief, als wäre ihm nichts im Weg. Einen weissen Schleier hat es getragen, das war sein einziges Gewand, und in den Händen hielt es einen mächtigen Schlüsselbund, an dem wohl ein Dutzend Schlüssel hangen mochte. Vielleicht, wer die Schlüssel ihm abnehmen könnte, würde ein Schloss mit goldenen Kammern erobern, dachten die Ledigen und suchten das Fräuli zu haschen.
Wenn sie spät in der Nacht über die Gasse gingen, von einer Liebsten her oder aus dem Wirtshaus, dann schwebte unversehens das Nachtfräulein um sie, winkte ihnen und lockte und neckte sie und tat, als ob es sich noch so gerne fangen liesse. Doch wenn sie ihm näherkamen und es gar mit Stricken und Seilen zu fangen versuchten, so war es plötzlich verschwunden und tanzte weit draussen am Niederberg und winkte und lockte sie von neuem, bis die Burschen todmüde im Morgengrauen in ihre Betten sanken.
Einmal aber spannten sie das grösste Fischernetz, das sie auftreiben konnten, bei der Klostermauer auf und jagten das Fräulein von allen Seiten wie ein Wild, meinten auch, sie hätten es schon. Vor dem Netz aber stieg es wie ein leichter Nebel in die Höhe, hüpfte lachend über die Maschen und liess die Burschen mit leeren Händen stehen, bis der Hahn krähte. Noch manchmal versuchten sie es zu haschen, doch kein einziges Mal geriet ihnen der Fang, und so liessen sie es schliesslich bleiben. Als mit den Jahren der Allerseelentag auf christliche Art gefeiert wurde, da fand auch das Nachtfräulein die ewige Ruhe und ward nie mehr gesehen.
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch