Die tote Braut

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Einst kam ein junger Ritter, Kunz von Stein, ins Glarnerland geritten. Er war ein armer Haudegen, der nichts hatte als einen ärmlichen, düstern Burgstall, der aus lauter Ecken zu bestehen schien. Daher war es ihm im Hause nicht wohl, und sooft er konnte ritt er auf seinem magern Rösslein auf Abenteuer aus. Er hatte nämlich im Sinn, sich ein schönes und reiches Burgfräulein irgendwo zu erjagen, auf dass er auch einmal zu Land und Leuten und zu Minne und Ehre komme.

Es war schon finstere Nacht, flimmernd standen die Sterne am Himmel und guckten um die gespenstigen Bergspitzen und scharf umrissenen Gräte, als der junge Ritter der alten, zerfallenen Burg Windegg zuritt, die mit gewaltigen Mauern immer noch schreckhaft genug dastand. Als er nun die Burg ansah, meinte er, sie könnte vielleicht doch noch bewohnt sein, da die Burgen äusserlich alle uralte Gesichter machen. Also lenkte er sein Pferd bergan, um sich in der Burg, wenn darin doch jemand hausen sollte, ein Nachtlager zu erbitten. Er war gar müd, und auch sein mageres Rösslein liess den Kopf hängen.

Bald ritt er in den Burghof ein. Aber der war verödet. Aus den Plattensteinen wuchs überall das Gras hervor, und von den gewaltigen Linden ging ein immerwährender Blustregen nieder, also dass der Hof davon voll Wohlgeruch war. Verdrossen schaute er sich ringsum und dann am Gebäude hinauf. Nur leere, unheimliche Löcher starrten ihn an. Gleichwohl stieg er ab, um das hungrige Pferd wenigstens das Gras im Hof ein bisschen abweiden zu lassen.

In diesem Moment gab es ob ihm ein Geräusch, ein kleiner Stein fiel von der Mauer herab in den Hof hinunter und rollte zu seinen Füssen. Er blickte auf und gewahrte jetzt ein erleuchtetes Fensterchen, das er merkwürdigerweise vorher nicht gesehen hatte. Es wohnte also doch jemand im alten, baufälligen Schloss. Vielleicht gar Räuber. Sei es, was es wolle, Ritter Kunz von Stein fürchtete sich nicht. Er wollte sich die Schlossbewohner ansehen. Lange suchte er nach einem Eingang. Endlich fand er eine zierliche Bogentüre. Mutig trat er ein, und obwohl es dunkel war wie in einer Kohlengrube, tastet er sich doch tapfer die Wendeltreppe des Turmes hinauf. Bald kam er durch eine grosse, unheimliche Halle und stand unversehens in einem grossen, hell erleuchteten Saal. Von der Decke hing ein gewaltiger, goldener Leuchter, und darunter war ein langer Tisch, der mit den leckersten Gerichten und Weinen überdeckt war. Staunend sah der Ritter die Herrlichkeiten an, die er aussen dem Schlosse gar nicht zugetraut hatte. Es wollte ihn doch so etwas wie ein Grauen überkommen. Da erblickte er an einem Tischchen eine bildschöne Jungfrau, die ihr Lockenhaupt auf ein Pergament gesenkt hatte, in dem sie zu lesen schien.

Jetzt wurde ihm wohl ums Herz und leicht wie einem Spatzen im Erntemonat. Er schritt durch den Saal, von dessen Wänden seine Schritte dumpf widerhallten. Wie er nun bei dem Tischchen stand, an dem die Jungfrau las, nahm er sich zusammen und sprach: «Schöne Jungfrau, hier steht der Kunz von Stein. Verübelt mir’s nicht, dass ich euch so unangemeldet ins Schloss falle, aber der Hunger und Durst trieben mich hinein, und allzu gern möchte ich mich an eurem wohlversehenen Tische erlaben.»

Da schaute die Jungfrau auf, sah ihn mit sanftem Lächeln an und winkte ihm lautlos zu, er möge sich doch ohne weiteres an den langen gedeckten Tisch setzen. Das liess sich Kunz von Stein nicht zweimal verdeuten. Er setzte sich auf den Wink des Burgfräuleins, für das er die Jungfrau hielt, an die Tafel und begann in auserlesenem Wildbraten und köstlichen Weinen zu schwelgen. Es fiel ihm aber doch auf, dass auf dem Tische Brot und Salz fehlten. Als er satt war, richtete er den Blick wieder auf die lesende Jungfrau und fragte sie, ob sie wohl des Hauses Töchterlein sei. Sie schaute auf und nickte. «Und wo sind Eure Eltern?» wollte er wissen. Da blickte sie erst zu den hohen Wänden auf, an denen die Bildnisse alter Ritter in Harnisch und edler Frauen in wunderlichen Hauben hingen. Doch redete sie kein Wort. Das kam dem Ritter Kunz recht seltsam vor. Aber bald fragte er wieder: «Seid ihr noch nicht vermählt, schöne Frau, und ist dies reiche Gut alles euer?» Sie blickte ihn an und nickte. Nun fiel es ihm ein, das Burgfräulein könnte am Ende stumm sein. Dennoch gedachte er, die gute Gelegenheit zu benutzen und sich in dem anmutigen Wesen eine Hausfrau zu ererben, wie er sie schon lange vergeblich gesucht hatte. Ihr Stummen focht ihn wenig an.

Rasch stürzte er noch einen Becher Wein, um sich Mut zu machen, dann erhob er sich, trat auf die Jungfrau zu und sagte ihr, dass er sie liebe, und dass es sein grösstes Glück wäre, wenn sie sich heiraten könnten. Zuletzt fragte er sie, ob sie ihn wohl haben möchte. Und als sie lächelnd nickte, ergriff er ihre Hände, die eiskalt waren. Doch sie entzog sie ihm sogleich wieder. Dann öffnete sie eine Mauerblende und nahm zu seiner Freude zwei feine, goldene Ringe heraus, wovon sie den einen ihm, und den andern sich an den Finger steckte. Wie er aber wieder ihre eiskalten Finger berührte, ging ein Schaudern durch seinen Leib, aber er überwand sich und dachte: «Wer wagt, gewinnt.»

Jetzt reichte sie ihm den Arm und führte ihn aus dem erleuchteten Saale in einen düsteren Gang, dem sich andere Gänge anschlossen, die von aufgeschreckten Fledermäusen wimmelten. Auf einmal vernahm er ein seltsames Summen, und es ward nach und nach ein Orgeln daraus. Plötzlich standen sie in einer schwach erhellten Burgkapelle.

Überall aber im ungewissen, dämmerigen Ampelschein des Ewigen Lichtes sah der Ritter Grabmäler auf dem Boden der Kapelle, bald hinter Säulen, bald an den Wänden, worauf in Lebensgrösse die Steinbilder alter Burgherren und Ahnfrauen lagen. Wie machte Kunz von Stein aber Augen, als er gewahr wurde, wie die Jungfrau zu einem Grabmal trat, wie sie mit ihrer weissen Hand liebkosend über das marmorne Angesicht des Steinbildes fuhr, und wie sich das belebte und regte und sich auf einmal mit rasselndem Harnisch erhob.

Er wollte entfliehen, aber er konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Mit Grauen sah er, wie die schöne Jungfrau lautlos von einem Grabmal zum andern ging, überall die Steinbilder zu Leben erweckend. Jetzt klirrte es von allerhand Rüstzeug und von eisernen Tritten in der Kapelle, und gegen den Altar war ein Rauschen von brokatenen Gewändern. Nun kniete die geisterbleiche Jungfrau vor den Altar hin und winkte dem angsterfüllten Kunz von Stein, er möge ihr zur Seite ebenfalls niederknien. Bebend machte er sich vor den Altar und liess sich neben seiner bleichen Braut auf die Knie nieder. Wie er aufschaute, sah er mit Schrecken einen alten Priester im Messgewand vor sich stehen. Nun verstummte die Orgel, und mit einer hohlen Stimme, die wie aus einem Grabe herauftönte, fragte jetzt der greise Priester: «Kunz von Stein, willst du Berta von Windegg, die Letzte ihres Stammes, zur Frau annehmen?»

Doch der junge Ritter vermochte keine Antwort herauszubringen, obschon ihn die schöne Braut neben ihm unverwandt und mit flehenden Augen ansah. Er schlotterte vor Grauen, und der Schweiss rann ihm von der Stirn auf den roten Teppich vor dem Altare. Gott und alle Heiligen rief er um Beistand an. Aber der Priester wollte schon die Hand segnend über das Brautpaar ausstrecken. In diesem Augenblick krähte irgendwo in der Burgnähe der Hahn. Da ging ein fürchterliches Geschrei durch die Burgkapelle: «Noch nicht erlöst! O unseliger Tag!» Und alsobald legten sich die Ritter und Edelfrauen auf ihre Sarkophage, wo sie gleich wieder zu Stein wurden.

Den Ritter Kunz von Stein aber packte mit einem Male ein Sturmwind und trug ihn sausend davon, vor die Türe, durch die er ins Schloss getreten war. Da verlor er das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, stand sein Ross bei ihm und leckte ihm den Helm. Er erhob sich noch völlig verwirrt von dem unheimlichen Erlebnis und verliess rasch das gespenstige Schloss, das sich nun im heraufziehenden Tag als ein leeres, zerfallenes Burggemäuer darstellte.

Von da an konnte er die schöne Jungfrau, die er nicht zu erlösen vermocht hatte, nicht mehr vergessen. Er entsagte der Welt und ging ins Kloster, wo er den goldenen Verlobungsring, den er in der Burg Windegg von seiner toten Braut bekommen hatte, auf den Altar legte. Hochbetagt starb er im Kloster. Das Burgfräulein auf der Windegg aber harrt noch immer ihres Erlösers.

 

Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

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