Es war einmal ein Mann mit seiner Frau, habliche Leute, die gemächlich von ihren Zinsen lebten. Die hatten einen einzigen Sohn, einen hübschen aufgeweckten Knaben. Der hatte eine Flöte, die tönte so fein wie keine andere auf der Welt. Wenn er darauf blies, da war's, als pfiffen und trillerten alle Vögel unter dem Himmel und sprudelten und quirlten die Bächlein am Berg und als würde der Wind säuseln und rauschen in den Wäldern. Seine Gespielen vergassen allemal Spiel und Streit, wenn er sein Flötlein hervornahm und ihnen ein Lied darauf spielte. Und die Leute schauten von ihrer Arbeit auf und lauschten seinem Spiel.
Der Vater hatte sein Geld weit fort in der Stadt angelegt, und als nun der Sohn herangewachsen war, sagte er zu ihm:
»Morgen reise ich in die Stadt, um die fälligen Zinsen heimzuholen, du sollst mich begleiten, dann weisst du das nächste Mal den Weg selber und kannst allein gehen. Denn ich bin schon alt, und da fällt mir das Reisen beschwerlich.«
Also gingen sie miteinander nach der Stadt und holten das Geld heim.
Nach einem Jahr sagte der Vater: »Geh nun und hole mir den Zins heim, den Weg kennst du ja jetzt.« Der Bub machte sich fröhlich auf den Weg, und wenn's ihm langweilig wurde, nahm er seine Flöte hervor und blies ein munteres Stücklein nach dem anderen, und seine Füsse hielten Schritt mit den Tönen. So kam er schneller in die Stadt, als er gedacht. Er zog das Geld ein und schob den prallvollen Beutel in den Sack. Aber da es zu spät geworden war, als dass er den Tag noch hätte Heim gelangen mögen, so musste er über Nacht in der Stadt bleiben. Gegen Abend ging er noch durch die Strassen und Gassen, um sich das Leben und Treiben zu beschauen. Da sah er auf dem Platz vor dem Rathaus einen Haufen Leute; die schlugen einen nackten Leichnam mit Ruten. Einer nach dem andern trat hinzu und versetzte dem Toten einen Streich und sprach eine Verwünschung über ihn aus. Das deuchte den Buben grausam, denn er hatte ein weiches Herz, und er fragte einen Mann, warum sie das täten.
»Ei, junger Herr«, erwiderte der, »das ist hierzulande so der Brauch: Wer stirbt, und hat seine Schulden nicht bezahlt, der wird ausgepeitscht, andern zur Lehre und Warnung.« Ach, dachte der Bub da bei sich, die Toten soll man lassen ruhn und nicht noch einmal töten; denn der Tod hebt alles auf und er fragte, wie gross denn die Schuld des Toten wäre. Als man ihm den Betrag nannte, griff er in den Sack, zog den Beutel hervor und bezahlte alles, damit sie nur abliessen, den Toten zu schlagen. Und siehe, es war just so viel, als er an Zinsen eingenommen hatte. Die Leute aber schüttelten den Kopf, tippten sich an die Stirn und lachten über ihn und sagten zueinander:
»Der hat eins mit dem Sack überbekommen und jetzt sucht er silberne Glöcklein unter dem Regenbogen!« Denn sie meinten, er müsse ein rechter Narr sein, dass er sein Geld für so etwas gebe. Am andern Morgen zog der gute Bub munter flötend nach Hause. Es war ihm so wohl ums Herz, er wusste nicht warum. Aber als er statt des vollen Beutels den leeren heimbrachte, da ward der Vater zornig und schrie: »Du wirst auch erst klug, wenn die Steine zu Teig werden. Was hast du mit fremden Sachen zu schaffen! Und überdies, die Toten, die spüren nichts mehr.«
Übers Jahr hiess der Vater den Buben wieder in die Stadt gehen, um den Zins einzuziehen.
»Aber dass du dich nicht unterstehst, das Geld wieder zu vertun, das sage ich dir!« sprach der Vater, als der Bub aufbrach.
Der kam in die Stadt und zog das Geld ein. Auf dem Heimweg kam er an einem verfallenen Turm vorüber. Zuunterst im Gemäuer war ein Loch. Daraus winkte ihm eine weisse Frauenhand. Er trat hinzu und fragte: »Wer ist drinnen?«
»Ach«, rief eine sanfte Stimme zurück, »ach, hilf mir heraus, hilf mir heraus! Ich bin hier eingekerkert ohne Schuld!«
Der Bub nahm seinen Stock und machte das Loch grösser, bis die Gefangene hindurchschlüpfen konnte. Es war eine schöne Jungfrau, aber gar zart und blass von Angesicht. Er begleitete sie nach der Stadt zurück und brachte sie in eine Herberge und er legte dem Wirt den Preis im Voraus hin. Und siehe, wieder war es just so viel wie der ganze Zins. Als er heimkam, und abermals einen leeren Beutel vorzeigte und erzählte, was vorgefallen war, da war der Vater so wütend und wild, dass er ihn zur selben Stunde noch aus dem Hause stiess, wie er stand und ging als ein Nichtsnutz, der Vater und Mutter verunehre, dass er ihr ganzes Geld wie Spreu in den Wind streue, und gar noch für ein fremdes Frauenzimmer. Da stand nun der Bub auf der Strasse und hatte nichts als seine Flöte. Langsam ging er nach der Stadt zurück und blies im Gehen eine alte Weise vor sich hin:
Welcher das Elend buwen well,
der macht sich uf und rust sich schnell
wol uf die rechten Strassen!
Vatter und Muoter, Ehr und Guot,
sich selbs muoss er verlassen,
das Glück er finden tuot.
Bald stand er wieder vor den Toren der Stadt und ging in das Wirtshaus, wo er die Jungfrau untergebracht hatte. Sie war frisch erblüht und begrüsste ihn hocherfreut als ihren Retter und erzählte ihm, sie sei die Tochter eines Königs jenseits des Meeres. Sie habe ihrem Vater eine Botschaft gesandt und Geld von ihm erhalten für die Heimreise. »Und du sollst mein Begleiter sein«, sagte sie, »damit ich nicht alleine bin auf der Fahrt über das Meer.« Dabei schaute sie ihn an mit ihren Augen, die wie die Sterne leuchteten, so dass er nicht nein sagen konnte, auch wenn er gewollt hätte.
Der Kapitän des Schiffes, ein wüster Mann, wie's keinen mehr in sieben Ländern gibt, merkte bald, dass die vornehme Jungfrau und ihr Begleiter einander gut waren. Denn wenn der Wind die Segel blähte und die Wellen um den Bug schäumten, nahm der Bub seine Flöte hervor und spielte ihr lustige Weisen vor, und die Schiffsleute fingen an zu singen und rührten rüstig die Glieder. Doch wenn die Sonne sank, dann spielte er traurig süsse Weisen, dass allen das Herz vor Wehmut zerfloss. Dem Kapitän aber gefiel das Spiel gar nicht, denn er hatte längst selber ein Auge auf die Jungfrau geworfen. Als er gar vernahm, dass sie eine Königstochter sei und ihr Liebster nur ein Musikant, drehte er in seiner Seele den Faden zu einem finsteren Gespinst, und er beschloss, sich des Buben bei der ersten besten Gelegenheit zu entledigen.
Mitten auf dem Meer brach ein furchtbarer Sturm herein. Das Schiff schwebte bald auf den höchsten Kämmen der Wellenberge, bald auf dem untersten Grund der Wellentäler. Die Segel knatterten und flatterten in Fetzen, Rahen brachen und krachend bog sich der Mast. Da entbot der Kapitän alle Mann auf Deck und liess auch den Buben mit Hand anlegen. Der griff unerschrocken zu. Da stiess ihn der Kapitän hinterrücks über Bord. Er klammerte sich an einem treibenden Balken fest und wurde, nachdem er lange auf den Wellen umhergetrieben, an den Strand einer unbewohnten Insel geworfen.
Auch das Schiff entrann dem Sturme. Die Königstochter weinte sich beinahe die Augen aus um ihren Liebsten. Aber der Kapitän tröstete sie und tat gar freundlich und liebreich, brachte sie zu ihrem Vater und sagte, er habe sie aus dem Kerker befreit und glücklich übers Meer geführt. So sei es nur recht und billig, dass er sie zur Frau erhalte. Der Königstochter drohte er aber insgeheim, er werde sie umbringen, wenn sie die Wahrheit erzähle. Der König war ausser sich vor Freude, dass er seine Tochter wiederhatte, und er glaubte aufs Wort alles, was der Kapitän sagte. Er wusste nicht, wie er ihm seine Dankbarkeit besser beweisen möchte, als dass er ihn zum Schwiegersohn annahm, und so wurde die Heirat festgesetzt.
Die Jungfrau aber bat ihren Vater, sie wünsche, dass ihr erst ein neues prächtiges Schloss gebaut werde, in dem sie mit ihrem Gatten wohnen wolle. Eher werde sie dem Kapitän ihre Hand nicht reichen. Und der König erfüllte ihren Wunsch.
Der Bub auf der einsamen Insel im Meer schaute Tag für Tag aus, ob nicht ein Schiff vorüberkäme, dem er sich durch Zeichen bemerkbar machen könne. Doch Tag um Tag verging und kein Mast, kein Segel zeigte sich in der Ferne. So verstrich ein ganzes Jahr, und der Bub wäre verzweifelt, hätte er nicht noch seine Flöte gehabt. Da, als er eines Tages wieder an dem Strande stand, kam aufs Mal ein Hase angeschwommen. Der schüttelte sich das Wasser aus dem Pelz und fing an zu reden und sprach:
»Setz dich auf meinen Rücken und sag mir, wohin ich dich tragen soll.«
Der Bub nannte ihm den Namen des Königreiches, über das der Vater der Jungfrau herrschte. Der Hase trug ihn durchs Meer und setzte ihn an der Küste jenes Landes ab. »Wisse«, sagte der Hase, »ich bin der Tote, dessen Leichnam du losgekauft hast von Schuld und Schmach. Jetzt habe ich meine Sünden gebüsst und bin erlöst!« Da war er schon verschwunden - der Bub hat ihm nicht einmal danken können.
Nun wanderte der Bub landeinwärts in die Residenz, als eben die Feierabendglocken läuteten. Am andern Morgen ging er ins Schloss hinauf und fragte nach Arbeit. Viele Bauleute waren an dem neuen Bau beschäftigt, und viele brauchte man, denn der Schwiegersohn des Königs trieb zur Eile. So wurde er als Pflasterbub eingestellt, und er fuhr Sand und Kalk, trug Wasser, schleppte Mörtel und Steine den lieben langen Tag. Nach Feierabend aber schlich er sich in den Garten des Schlosses, setzte sich auf die Mauer, nahm seine Flöte hervor und blies die alten Weisen. Wie die Königstochter die Töne hörte, kamen ihr die Tränen, und traurig sprach sie:
»Läge er nicht auf dem Grunde des Meeres, wahrlich, ich würde meinen, es sei mein Erlöser, der da drunten spielt; denn diese Weisen hatte er einst geblasen.« Bald blies der Bub auch unter der Arbeit, denn dann ging den Bauleuten alles leicht und rasch von der Hand, und die Arbeit war wie ein Spiel, und der Bau wuchs, es war nicht zu sagen, und unversehens stand das Schloss da. Unterdessen war auch die Hochzeit der Königstochter mit dem Kapitän angesagt worden und alles zum Fest gerüstet. Auch der Baumeister mit allen Werkleuten war dazu eingeladen, und der Pflasterbub sollte aufspielen, denn ein besserer Musikant, meinten alle, wäre nicht zu finden. Beim Gastmahl gebot der König, dass alle Gäste, vom Bräutigam angefangen, das merkwürdigste Abenteuer erzählen sollten, das ein jeglicher erlebt. Der Kapitän stand auf, hob den Becher zum Munde, strich sich den Schnauzbart und erzählte, wie er die Prinzessin aus dem Kerker erlöst, glücklich übers Meer geführt und ihrem Vater zurückgebracht und zur Gemahlin gewonnen hätte. Da bat die Braut den Flötenspieler, er möchte doch als nächster sein Schicksal erzählen. Der trat vor und sprach: »Ehe ich mit Eurer Gunst dem Wunsche genüge, sei mir erlaubt, an den Kapitän eine Frage zu richten. Welche Strafe erleidet der zu Schiffe, der falsches Zeugnis gibt?«
»Solche werden lebendig gevierteilt«, antwortete der Kapitän und lachte.
Nun fing der Bub an, von Anfang bis Ende sein Schicksal zu erzählen, woher er komme, und wie es ihm ergangen, wie der Kapitän ihn ins Meer gestossen und auf welch wunderbare Weise er errettet worden. Noch ehe er zu Ende gekommen, fiel ihm die Königstochter um den Hals, küsste ihn vor aller Augen und sprach:
»Sehet alle her, dieser ist mein wahrer Erlöser, und mit ihm will ich Hochzeit halten.«
Der Kapitän wurde auf der Stelle gefesselt abgeführt und in den Turm geworfen, damit er nach seinem eigenen Spruche gevierteilt werde. Aber der Bub sagte: »Hab ich damals den Toten von den Lebenden losgekauft, so sei auch jetzt der Lebende vom Tode freigegeben.«
Also geschah's: Der Kapitän wurde an die Grenze des Landes gebracht und über See verschickt. Der Bub aber feierte Hochzeit mit der Königstochter und ist nachmals selber König geworden. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.
Quelle: Götz E. Hübner und Sigrid Früh, Von Gletscherjungfrauen und Erdmännlein, Fischer TB
Aus Johann Jegerlehner: Sagen und Märchen aus dem Oberwallis, Basel 1913
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.