Zwischen den zerklüfteten Eismassen des Pers- und des Morteratschgletschers ragt ein einsames Elfeneiland Isla persa, die verlorene Insel genannt. Hier leuchten Sommers Alpenrosen und Disteln aus dem Silbergrün des Zwergwachholders. Zu beiden Seiten treten Tannen und stolze Arvengruppen dicht an den Morteratschfirn heran. Viel schöner Wald muss unter ihm begraben sein, und nicht umsonst erzählt das Volk allerlei von seinem Vorrücken. Die Urkunden melden auch, dass da, wo jetzt die Eisgräte und Schründe des Gletschers starren, noch vor dreihundert Jahren saftige Weidenflächen sich dehnten bis gegen den Munt pers hinan. Da hatten die Pontresiner eine Alp.
Einst sömmerte dort, so geht unten im Dorf die Sage, ein junger Senn aus dem Vorderrheintal die Herden. Aratsch soll er geheissen haben, und ein hübscher Bursch muss er gewesen sein. Er gewann die Liebe einer reichen Bauerntochter von Pontresina. Schon damals war es Sitte, dass die Eigentümer der Viehhabe sich zu einem Fest auf der Alp versammelten, wenn die Milch jeder Kuh gemessen wurde, um danach den Ertrag des Sennentums zu verteilen. Bei dieser Gelegenheit hatten die beiden sich kennengelernt.
Doch die Eltern des Mädchens, geldstolze Leute, kamen dahinter und wollten nichts von der Verbindung wissen. Ihre Annetta brauche keinen armen Sennen zu heiraten, erklärten sie bündig. Wenn es ihm aber gelinge, setzten sie höflich hinzu, bald ein hablicher Mann zu werden, wohl, dann sollte er ihre Tochter und einzige Erbin zur Frau bekommen. Dabei blieb es. Noch mehr; der Vater setzte sogar durch, dass der Oberländer für den nächsten Sommer nicht mehr als Hirt auf dieser Alp angestellt wurde.
Traurig nahmen im Herbst die Liebenden von einander Abschied. Annetta gelobte dem Jüngling unter Tränen, sie werde nie einem anderem ihre Hand reichen, sondern auf ihn warten, bis er zurückkommen könne.
Aratsch aber ging in die Fremde und wurde Soldat. In ausländischen Kriegsdiensten war schon mancher Bündner zu Ansehen und Vermögen gekommen. Auch Aratsch hielt sich wacker und brachte es in kurzer Seit zum Hauptmann.
Unterdessen härmte sich daheim seine Verlobte, ohne Nachricht gelassen, um ihn und verzehrte sich von Tag zu Tag mehr in geheimer Sehnsucht. Jetzt hätten die Eltern gerne in die Heirat gewilligt. Doch vergebens forschten sie nach dem Jüngling. Er blieb verschollen, und Annetta starb vor Kummer und Herzeleid.
Gerade jetzt geschah es, dass Aratsch nach jahrelangem Fernbleiben als Offizier zurückkehrte. Er ritt, ohne dass er sich jemand zu erkennen gab, alsbald hinauf ins Engadin. Spät am Abend trat er in Annettas Elternhaus. Da lag die Geliebte im Totenbaum, nach Landessitte unter dem Spiegel aufgebahrt und ganz mit Edelweiss und Enzianen zugedeckt. Er war zu spät gekommen.
Stumm schaute er auf das schöne, bleiche Gesicht, stürmte dann hinaus, schwang sich in den Sattel und sprengte nach der Alp, wo er einst gehütet, und weiter bis zum Gletscher, der dahinter lag. Dort spornte er seinen Falben zu einem entsetzlichen Sprung, und Mann und Ross verschwanden im eisigen Schlund. Niemand hat den Verzweifelten je wieder gesehen.
Der unglücklichen Braut aber liess ihr Treueschwur keine Ruhe auf dem Friedhof zu Pontresina. Es trieb sie immer wieder, die teuren Stätten aufzusuchen, wo sie glückliche Stunden verlebt hatte, und Nacht für Nacht hörten die Sennen und Hirten droben in der Alphütte ein seltsames Hantieren. Es war, als ob jemand in den Milchkeller trete, dort von einer Gebse zur andern gehe und den Rahm koste, um nachzusehen, ob alles treulich besorgt sei. Dazwischen liess sich eine weibliche Stimme vernehmen, die in einem fort den kläglichen Seufzer ausstiess: „Mort Aratsch! Mort Aratsch!" So grämte sich Annettas Geist auch im Tode noch um den Geliebten.
Auf dem Berg sennte damals ein bejahrter Mann, kurzweg Barba Gian genannt. Der liess die rätselhafte Erscheinung gewähren und sah sie endlich sogar gern. Denn er bemerkte, dass die Alp, seitdem jene sich zeigte, besser geworden war. Die Kühe gaben mehr Milch, und der Rahm wurde fetter als vordem. Auch verunglückte jetzt selten mehr ein Stück Vieh.
Als Gian in hohem Alter das Sennentum aufgab, weihte er seinen Nachfolger in das Geheimnis ein und ermahnte ihn, die wunderbare Jungfrau zu achten und beileibe nie zu stören; es werde sein Vorteil sein. Doch der junge Senn war rohen und hartherzigen Sinnes, wollte von allem nichts wissen und meinte kurz, er müsse erst selber untersuchen, was an der Sache sei.
Mit dem Einbruch der ersten Nacht, die er in der Alp zubrachte, erschien die Gestalt wie immer. Leise ging ihr der misstrauische Geselle in den Milchkeller nach und liess sie erst ruhig machen. Als sie aber einen Löffel vom Gesims herab nahm und seufzend im Rahm zu rühren begann, fuhr er sie mit rauer Stimme an und befahl ihr, das zu lassen. Er leide nicht, dass jemand in seiner Milch sudle. Und er tat einen Fluch und wies die arme Seele für immer aus der Hütte.
Die Jungfrau warf ihm einen traurigen Blick zu und entfernte sich weinend. Aber plötzlich krachte ein Donnerschlag, und ein furchtbares Gewitter entlud sich unvermutet über der Gegend. Und durch das Getöse hörte der Senn aus der Höhe ihre Stimme, die zürnend ausrief: «Schmaladida saja quaist' alp e sia pas-chüra!» (Was soviel heisst: Verflucht sei diese Alp samt ihren Weiden!)
Von dem Tage an wurden die Weiden immer magerer und dürrer, der Segen der Alp war dahin. Sie verfiel und musste nach kurzer Zeit verlassen werden. Der Gletscher rückte aus der Schlucht dahinter zusehends vor und bedeckte die Alp, die Hütte und dazu das ganze Seitental weit gegen den Berg hinauf, der seitdem Munt pers, der verlorene Berg, heisst. Nur die Bovalhütte hoch oben am Gletscher und die Isla persa mitten in Eis und Schnee erinnern noch an die herrlichen Weiden der alten Alp.
In stillen Nächten vernimmt man bisweilen noch tief unten herauf das Läuten von Herdenglocken und den Jammerruf der Jungfrau. Viele wollen sie an trüben Tagen oder wenn ein Wetter im Anzug war, wieder gesehen haben, wie sie mit aufgelöstem Haar auf dem Gletscher umherirrte, als ob sie etwas suche.
Noch lange aber erhielt sich im Munde der Pontresiner die Sage von der Signura da Morteratsch, deren Klage um den toten Geliebten dem grössten Bündner Gletscher den Namen gegeben hat.
Aus: Ernst Lechner, Piz Languard und die Berninagruppe, Leipzig 1865
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.