In Zeneggen, einem schönen Alpengelände im Walliser Vispertal, wo noch auf hoher Alp ein feuriger Wein wächst, lebte einmal eine Frau. Die hatte ein Kindlein. Aber obschon sie ihm alles tat, was eine zärtliche Mutter ihrem Kinde zuliebe tun kann, wollte das kleine Geschöpf doch nicht recht vorwärtskommen. Immer blieb es ein kleines, zwerghaftes Kind. Und obwohl es die Mutter mit den süßesten Tönen, die es auf Erden gibt, Tag und Nacht liebkoste und ansprach, kam doch nie auch nur ein Stammeln, geschweige sonst ein rechter Laut über seine Lippen.
Eines Tages besuchte nun die bekümmerte Mutter ihre Nachbarin und klagte ihr das Leid, das sie des seltsamen Kindes wegen habe, und wie sie nicht begreifen könne, daß sie ein solch unansehnliches, stummes Geschöpf zum Kind habe, da doch in ihrer Familie immer alle Kinder wohlgeraten seien. "Ich weiß nicht", setzte sie hinzu, "was ich mit dem Kinde anfangen soll. Es scheint gescheit zu sein, auch versteht es mich wohl, und doch will es kein Wörtlein reden."
Die Nachbarin, der das nicht mit rechten Dingen zuzugehen schien, machte ein gar bedenkliches Gesicht. Und da sie mit der guten Frau Mitleid hatte, gab sie ihr zuletzt den Rat, sie solle das wunderliche Kind in die Stube setzen, ihm zum Spielen recht viele halbe Eierschalen hinlegen und heimlich zuschauen, wie sich dann das Kind benehme, denn sie habe einen Verdacht.
Wie nun die Mutter heimkam, schlug sie wacker Eier ins Pfännchen und kochte daraus einen guten Eierkuchen. Die Eierschalenhälften aber legte sie vor das in der Stube sitzende Kind hin und guckte dann durch eine Spalte der Küchentüre, um zu sehen, was nun das Kind mache. Das aber war kaum der halben Eierschalen ansichtig geworden, so rief es staunend aus: "Ja, nuewela, so viel Häfelein habe ich noch nie gesehen!"
Hocherfreut darüber, daß sie nun das Kind reden gehört hatte, eilte die Mutter zu ihrer Nachbarin und berichtete ihr das Wunder.
Aber die Nachbarin zuckte die Achseln, machte ein ernsthaftes Gesicht und sagte, daß ihr Verdacht nun wahrscheinlich begründet sei. Wahrscheinlich habe man ihr das eigene rechte Kind gleich aus der Wiege gestohlen und dafür ein Gotwärgi, ein Zwergenkind, hineingelegt.
Die gute Mutter erschrak fast zu Tode, als sie das hörte, und wußte vor Ratlosigkeit nicht, was sie anfangen sollte. Da sagte die Nachbarin, die nicht zu den ganz Dummen gehörte, zu der verzweifelnden Mutter: "Geh heim, nimm das Kind und steig damit auf den Bielhügel. Dort peitsche es durch, daß sein Geschrei weithin gehört wird. Aber du darfst ja kein Erbarmen haben, dann, vielleicht, erlösest du dein rechtes Kind wieder."
Nachdenklich eilte die Mutter heim. Aber als sie das spielende Kind unter seinen Eierschalen sitzen sah, wurde ihr's doch schwer, so unschön es war, es zu schlagen, um so schwerer, als sie doch nicht sicher wissen konnte, ob es nicht wirklich ihr rechtes Kind sei. Endlich, nach vielem Ach und Weh, nahm sie das Kind vom Boden auf und trug es mit zitternden Armen auf den Bielhügel. Und wie sie nun das elende Geschöpfchen im hellen Tageslicht ansah, schien ihr's immer unmöglicher, daß dies ungestalte Wesen ihr Kind sein sollte. Sie schloß die Augen, bezwang das Herz und begann das Kind zu schlagen. Alsbald schrie es, obwohl sie's nicht hart schlug, daß Berg und Tal Echo gaben.
Wie tat aber die Mutter die Augen auf, als eine kleine Gotwärgifrau in wilden Sprüngen herbeieilte! Und wie staunte sie erst, als sie in den Armen des Zwergweibleins ein schönes, wohlgewachsenes Kind erblickte! Es ward ihr seltsam zumute; sie hob die Hand, um das ungestalte Kind in ihrem Schoß noch härter zu schlagen. Aber schon stand die kleine Gotwärgifrau bei ihr, riß ihr das verkümmerte Kind aus den Armen, warf ihr das schöne in den Schoß und schrie gellend: "So nimm du das deinige und ich das meinige, du unbarmherziges Mütterlein!"
Damit drückte das Zwergfrauchen das ungestalte Kind fest an seine Brust und eilte wie eine Gämse davon. Die Mutter aber blieb vor Staunen und Freude wie gebannt sitzen und konnte ihr rechtes Kind nicht genug ansehen.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.