Einem edlen, unschuldvollen Burgfräulein machte ein Jüngling von gleichem Adel einen unerlaubten Antrag. Sie versagte standhaft die Einwilligung. Einmal gelang es ihm, sie auf einsamer Stelle zu überfallen. Die edle Seele verteidigte sich bis in den Tod. Er verbarg den Leichnam an der gleichen Stelle. Sein Gewissen quälte ihn fortan unendlich. Er nahm Pilgerstab und Mantel und floh mehr als er wanderte nach Sankt Jakob, allwo er seine schreckliche Sünde beichtete. Wegen seiner grossen Reue ward ihm die Lossprechung zu Teil, doch nur gegen Übernahme einer schweren Busse. Nie mehr sein Lebenlang sollte er nach Art und Gewohnheit der Menschen gehen, sich kleiden und nähren, sondern wie ein Tier, zu dem er sich durch die Sünde erniedrigt habe, müsse er wandeln und sich behalten so viele Jahre, als es dem Himmel gefalle. Einst dann werde ihm das Ende seiner Busse angemeldet. Der junge Edelmann willigte in die herbe Prüfung ein und begab sich, ein freiwillig Verbannter, weit ausser Landes in die Fremde. So kam er in's Entlebuch, wo er in entlegener Waldeinsamkeit das schwerste Busswerk übte.
Viele Jahre waren verstrichen, da zog ein Landmann seines Weges daher. Bald hielt ein freundlicher Unbekannter zu ihm, mit dem er angenehm sich besprach. Der Fremde führte absichtlich den Entlebucher nach einer andern als der gewollten Richtung im Walde hin, denn dieser merkte es vor lauter Eifer nicht. Plötzlich standen sie im Walddickicht vor einem sonderbaren Wesen, das wie ein wildes Tier aussah und doch scheu davon zu fliehen suchte. Der Unbekannte gebot ihm stille zu stehen. Das Wesen gehorchte und vernahm dann die Anrede: „Sieben mal sieben Jahre hat deine Busse gedauert, hast du keine menschliche Gesellschaft, Kleidung und Speise und Obdach mehr genossen, sondern es nicht besser gehabt als wie ein Tier des Waldes. Die Schuld ist gesühnt, du bist erlöst, schüttle dich!" So der Unbekannte. Das Wesen schüttelte sich und in tausend Flocken ging die Hülle auseinander, in welcher der Büsser verzaubert wohnte. Man sah an seiner Stelle jetzt ein holdes knieendes Knäblein mit betend erhobenen Händchen, welches sogleich in eine weisse Taube sich verwandelte und auf gegen Himmel schwang.
Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Der Unbekannte fuhr nun mit dem Zeugen dieser Begebenheit urplötzlich weit hinweg in ein ganz anderes Land. Da stellte er ihn ab, wieder in einem Walde. Vor sich schaute der Entlebucher eine Blume von nie gesehener Schönheit. Sie duftete wie das feinste „Nägeli". Diese wuchs aber mitten aus einem Haufen abgehauener Stauden hervor. Der Führer hiess den Landmann die Stauden abheben. Als dies geschehen, lag eine tote Jungfrau da, die aber noch so blühend und frisch aussah, als ob sie schlafe. Ihr aus dem Herzen war die Wunderblume durch das Gebüsch empor gewachsen. Der Verwunderung des Entlebuchers gab der Unbekannte den nötigen Aufschluss, indem er sogleich erzählte, wie vor 49 Jahren jener, den er daheim als so grossen Büsser kennen gelernt, hier die Untat verübt und die Jungfrau darauf als Heilige im Himmel wonnevollen Lohn empfangen habe, während auch ihr Leichnam auf Erden bis zu diesem Augenblick wundervoll erhalten und nun herrlich ins Tageslicht gekommen sei.
Quelle: Alois Lütolf, Sagen, Bräuche, Legenden aus den fünf Orten Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug, Luzern 1865. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch.