Beim Dorf Einsiedeln lebte der Waldbruder Johannes, Über 20 Jahre brachte er in seiner Wildnis mit gar frommem Leben zu und ward ihm ob seiner hohen Tugendstufe wunderbar die himmlische Speise gebracht. Ihm däuchte, er sei so im Guten befestigt, dass er gar nicht mehr sündigen könnte und so liess er dann leider davon ab, Gott um die Gnade der Beharrlichkeit zu bitten. Eines Tages besuchte ihn eine Frau, die am Finger einen prachtvollen Ring trug. Johannes sah ihn und empfand die heftigste Begierde darnach. Er lud die Frau zu einem Spaziergang ein. Beide befanden sich eben im einsamsten Walde, als er sie überfiel, niederschlug, tötete und beraubte.
Am Abend bei der Gewissenserforschung sah er ein, welch eine Tat er verübt hatte und zur Strafe beschloss er sieben Jahr auf Händen und Füssen wie ein Tier im Walde herum zu kriechen. Und das vollzog er ganz nackt, kein Obdach vor dem Ungewitter suchend, niemals sich erhebend. Nach 4 Jahren war sein Leib ganz mit Haaren bewachsen, dass er einem Tiere glich. Einst sah ihn ein Jäger und als er dieses seltsame zahme Tier sah, fing er es, nahm es mit sich nach Hause und band es an einen Tisch. Mal kam die Frau mit ihrem halbjährigen Kind auf den Armen und betrachtete das Tier. Da fing das Kind, welches vorher kein verständiges Wort von sich gegeben hatte, an zu reden und sagte: „Johannes, deine Schuld ist dir vergeben!“ Und dann war er verschwunden, nur der Strick war noch da. Mehr konnte aber das Kind nicht sprechen.
Hievon war im Freienamt eine Version. Der fromme Einsiedler heisst Johann Guarin. Es kommt der König und fleht ihn an, seine Tochter von einem bösen Geiste zu entledigen. Für die Prinzessin wird neben Johannes Zelle eine eigene gebaut. Der Mann Gottes betet täglich über sie und bald wäre sie befreit. Da kommt ein anscheinend sehr frommer Mann und bittet sich eine dritte Zelle bauen zu dürfen. Dies wird gewährt. Der Unbekannte weiss endlich dem Johannes einzuspinnen, es schicke sich nicht für ihn, neben einer Prinzessin zu sein, er müsse auch den blossen Schein, Böses zu tun, für sich nicht dulden. Es kam soweit, dass Johannes zuletzt vor einem Mordanschlage sich nicht mehr entsetzte. Auf einem Spaziergange schnitt er der Prinzessin tief in den Hals und vergrub sie dann. Gleich stand aber der Teufel neben ihm und machte dem Mörder das Gewissen warm, in der Absicht, ihn zum Selbstmord zu bringen. In seine Zelle zurückgekehrt, fand der Waldbruder den andern nicht mehr dort und merkte bald, wer sein Kollege gewesen sei. Reuevoll ging Guarin zum Papst und bekannte seine Missetat. Die Busse war, er soll sieben Jahre lang im Wald umherkriechen wie ein wildrs Tier, nur Wurzeln essen, Haare und Nägel nicht beschneiden. Vergeblich kam indessen der König zur Zelle, seine Tochter zu holen, sie war verschwunden. Nach 7 Jahren bekam er ein Kind und deshalb wurde grosser Jubel veranstaltet und eine Jagdpartie ausgeführt. Dabei fing man ein seltsames Tier, bei dessen Anblick hernach das neugeborne Kind zu reden begann und sprach: „Johann Guarin steh' auf, deine Sünden sind dir vergeben." Auch der König verzieh und liess sich von Guarin das Grab seiner Tochter zeigen. Als es geöffnet ward, stieg die Prinzessin lebend heraus und entdeckte, dass sie im Augenblick, da das Messer an ihren Hals kam, Gott ein Kloster gelobt, wenn sie wieder aus dem Grabe entdeckt würde. Sie wollte indess nicht mehr heim und man baute auf selber Stelle das Kloster, in welchem sie verblieb. Guarin wurde wieder Waldbruder.
Quelle: Alois Lütolf, Sagen, Bräuche, Legenden aus den fünf Orten Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug, Luzern 1865. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch.