Schon seit ältester Zeit existiert in Uri ein origineller Landesbrauch des sogenannten Gassengerichts. Wenn nämlich bei Rechtsstreitigkeiten ein Dringlichkeitsfall vorhanden ist, d.h. wenn ein durchreisender Fremder in einen Rechtsstreit verwickelt wird, welcher schleunige Erledigung erheischt, oder aber wo Gefahr oder grosser Nachteil im Verzuge liegt, kann das sogenannte Gassengericht verlangt werden. Um ein solches zu erhalten, muss man sich zum Herrn Landammann begeben und demselben den Sachverhalt mitteilen. Findet der Herr Landammann, dass wirklich ein Dringlichkeitsfall vorhanden sei, so gestattet er das Gassengericht und schreitet sogleich zur Bildung und Abhaltung eines solchen. Das geschieht auf folgende Weise: Der Herr Landammann begibt sich mit dem Gesuchsteller auf die Gasse und bezeichnet auf derselben vorwärts schreitend die ersten Bürger, die ihnen der Zufall in den Weg führt, zu Gassenrichtern, und heisst sie mit ihm kommen. Wenn die Zahl von wenigstens acht Richtern, die aber auch auf zwölf ansteigen darf, erreicht ist, so macht derselbe Halt, bildet einen Kreis um sich und legt dem auf diese Weise gebildeten Gassengerichte den Dringlichkeitsfall zur Entscheidung vor. Der Ausspruch eines solchen Gerichtes ist ebenso bindend und rechtskräftig, wie derjenige eines ordentlichen Gerichtes in gewöhnlichen Fällen.
Quelle: Alois Lütolf, Sagen, Bräuche, Legenden aus den fünf Orten Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug, Luzern 1865. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch.