Der Drächengrudel

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Ein Vater hatte eine Tochter, namens Seline, die seine ganze Freude war. Sie besassen ein Häuschen unten im Tale und hatten wenig zu beissen. Neben ihnen wohnte ein alter reicher Nachbar, der eine sehr schöne Frau hatte. Nach einigen Jahren erkrankte die Frau und fühlte, dass sie sterben werde. Da bat sie ihren Mann, er möchte, wenn sie gestorben sei, keine andere heiraten oder sie hätte denn so schönes goldenes Haar wie sie. Der Mann gelobte es, und als seine Gattin gestorben war, trauerte er lange um sie. Unterdessen war Seline zur blühenden Jungfrau herangewachsen. Sie war schlank und flink wie eine Gemse, und das Haar floss in schönen goldenen Wellen über ihre Schultern.

Mit der Zeit kam den Nachbar die Lust an, wieder zu heiraten, und er hielt Brautschau rings im Lande, fand aber kein Mädchen mit so feinen goldenen Haaren, wie sie seine Frau besessen hatte, und doch gab es eines ganz in der Nähe, und das war des Nachbars Tochter. Er fand, sie gleiche seiner Frau, wie sie vor zwanzig Jahren war, als er sie gefreit, und er beschloss, die Seline zu heiraten. Eines Tages eröffnete er ihr sein Vorhaben, doch sie lachte ihn nur tüchtig aus. Als sie aber sah, dass auch ihr Vater es wünschte, da wurde sie traurig und schloss sich in ihr Kämmerlein ein. Nach einigen Tagen kam sie wieder zum Vorschein. Sie glaubte, der Nachbar hätte sein Vorhaben aufgegeben, aber er bestürmte sie nur noch mehr, und nun nahm sie zu allerlei Ausreden Zuflucht. Eines Morgens sagte sie, sie wolle seine Gattin werden, wenn er ihr drei Kleider kaufe; das eine müsse glänzen wie die Sonne, wenn sie mittags über den Bergen steht, das andere wie der Vollmond in der hellsten Sommernacht, und das dritte wie die Sterne am Firmament. Der Nachbar war hoch erfreut über ihren Entschluss, reiste sofort ab, besuchte alle grösseren Städte und hatte keine Ruhe, bis er die drei Kleider besass. Als er sie nach Hause brachte und vor der schönen Seline ausbreitete, da glänzte und gleisste das eine wie die Mittagssonne, das andere war fahl und blass wie Vollmondschein und das dritte funkelte wie die Sterne über den Bergen. Seline konnte ihre Augen nicht abwenden von den schönen Kleidern, erschrak aber, als der Nachbar sie abermals fragte, ob sie ihn jetzt heiraten wolle. Da sagte sie: «Jetzt noch nicht, aber wenn du mir noch einen Wagen kaufst, der von selber fährt, dann will ich deine Frau werden!» Sie dachte, einen solchen Wagen gebe es auf der ganzen Welt nirgends und war froh, als der Alte auf die Bedingung einging. Er ging auf Reisen, blieb wochenlang weg und brachte einen Wagen zurück, der keine Pferde brauchte und von selbst fuhr. Jetzt durfte die Hochzeit nicht mehr länger hinausgeschoben werden. Am nächsten Tag schon sollte das Fest stattfinden. Sie fügte sich scheinbar in das Unvermeidliche, entschloss sich jedoch zur Flucht. In der Nacht bestieg sie den fremden Wagen, fuhr die ganze Nacht durch und den nächsten Tag auch noch, an vielen Dörfern und Wäldern vorbei, bis am Abend eine grosse, mächtige Stadt sich vor ihren Augen ausdehnte.

Vor dem Tore stand ein Bettelmädchen in schlechten Kleidern. Sie stieg aus, tauschte mit dem Mädchen die Kleider, damit niemand sie kenne in der Stadt, und übergab ihm den Wagen zur Obhut. Darauf wanderte sie durch das Tor in die Stadt und suchte Arbeit. Es ging nicht lange, so stand sie vor einem prächtigen Hause. Als sie staunend zu den Türen, Fenstern und bemalten Läden hinaufschaute, fragte eine Dame, was sie suche. Sie sagte, sie suche Arbeit, und wenn sie auch nur wenig dabei verdiene. Nun, sie solle hier eintreten, solche Leute könne man in diesem Hause schon brauchen. So kam sie in das schöne Haus und musste in der Küche neben dem Drächen oder dem Herde stehen und die niedrigsten Dienste verrichten, weshalb sie der Drächengrudel genannt wurde. Das grosse Haus aber, in dem sie diente, war der Königspalast, der von dem Kronprinzen und seiner Mutter bewohnt wurde.

Am Sonntag morgen fragte sie den Koch, ob sie nicht in die Messe gehen dürfe. Er betrachtete das schmutzige Mädchen von oben bis unten und fand, er und die hohe Herrschaft müssten sich schämen, einen solchen Drächengrudel in die schöne vornehme Kirche gehen zu lassen, doch wenn sie versprechen wolle, sich in den hintersten Winkel zu setzen, wo niemand sie sehe, so könne sie gehen. Sie gelobte es, eilte voller Freude in ihre Kammer und zog die drei schönen Kleider hervor, die ihr der Nachbar geschenkt, und die sie mit auf die Reise genommen hatte. Sie legte die schmutzigen Küchenkleider ab, wusch und kämmte sich sorgfältig, warf das Sonnenkleid über die Schultern und huschte durch ein Hintertürchen fort zur Messe.

Nach dem Hochamt kam der Prinz ganz verwirrt nach Hause und sagte zu seiner Mutter: «Ich habe in der Kirche eine Jungfrau gesehen mit wunderschönen, goldenen Haaren und einem goldenen Kleide, so schön wie die Sonne selbst, die möchte ich zur Frau!» Die Mutter erwiderte: «Wenn sie so schön ist, wie du sagst, so habe ich nichts gegen deine Wahl einzuwenden. Bring sie das nächste Mal her, damit ich sie kennen lerne!» Der Drächengrudel aber war längst in der Küche und sah wieder so schmutzig aus wie vorher.

Am nächsten Sonntag fragte Seline wieder, ob sie zur Messe gehen dürfe. Wenn sie sich halte wie am ersten Sonntag und gut verberge, hiess es, so dürfe sie gehen. Da stieg sie hinauf in ihr Kämmerlein, zog das Mondkleid an und wanderte zur Kirche. Als das Hochamt vorüber war, stellte sich der Prinz vor das Portal, um die schöne Jungfrau zu erwarten und anzureden. Als sie aus der Kirche trat, den Kopf tief gesenkt, ging er auf sie zu. Sie aber streckte den Arm wie zur Abwehr aus und wich zur Seite, doch konnte er ihr schnell noch ein Ringlein an den Finger stecken. Wie das erste Mal eilte sie auf weiten Umwegen ins Schloss zurück, schlüpfte unbemerkt durch ein Nebenpförtchen und stieg die Treppen hinauf in ihr Stüblein, wo sie das schöne Kleid auszog und wieder die Lumpen umhing.

Am dritten Sonntag erhielt sie abermals die Erlaubnis, zur Messe zu gehen. Für diesen dritten Kirchgang wählte sie das Sternkleid aus, das sie noch nie getragen hatte, und das sie am herrlichsten schmückte. Nach der Messe war der Prinz wieder zur Stelle. Doch sie wich ihm aus, und als er ihr nachfolgte, sprang sie davon. Er erreichte die Fliehende nicht, die schnell wie eine Gemse davoneilte; im Fliehen aber verlor sie einen Schuh, den der Prinz aufhob und in die Tasche steckte. Die Verfolgung gab er auf, denn er holte das Mädchen doch nicht ein. Nun besass er wenigstens ein Pfand von ihm und wer weiss, wozu das noch führen konnte.

Als der Prinz den kleinen zierlichen Schuh der Mutter vorwies und erzählte, wie es ihm ergangen sei, da war der Drächengrudel schon in der Küche in seinen alten fleckigen Kleidern und hantierte mit Pfannen und Tellern. Der Prinz war sehr traurig und sagte zu der Mutter: «Sie ist mir leider entwischt, aber ich habe den Schuh von ihrem Fusse, und nur die werde ich heiraten, der dieser Schuh gehört!» Da erwiderte die Mutter: «Ich will dir helfen, mein Sohn. Wir laden auf morgen alle vornehmen Jungfrauen des Landes zu einem grossen Mahle ein, lassen den Schuh von jeder anprobieren, und welcher er passt, nun, die soll deine Frau werden!» Der Prinz war damit einverstanden und freute sich über den glücklichen Einfall seiner Mutter. Boten wurden im Lande herumgeschickt, auf alle Schlösser und Burgen, mit dem Auftrag, zum Hoffeste einzuladen. Am nächsten Tage erschienen die vornehmen Jungfrauen alle am Hofe, jede in ihrem schönsten Kleide, denn jede dachte, der Prinz werde sich vielleicht heute eine Frau auswählen. Die einen hatten sich schneeweiss gekleidet wie Schlehdornblüten, andere rot wie Heckenrosen und andere wieder grün in allen Schattierungen, vom dunkelsten Tannengrün bis zum hellsten Grün der Lärchen. Als sie alle im Saale Platz genommen hatten, brachte ein Diener den Schuh und teilte mit, dass der Prinz diejenige zur Frau erwählen werde, deren Fuss in den Schuh hineinpasse. Jede wollte zuerst hineinschlüpfen, aber den meisten war er zu klein. Einige waren aber doch da, deren Fuss hineinpasste, obwohl es dem Prinzen schien, dass die, welche er dreimal in der Kirche gesehen hatte, nicht dabei und also keine die richtige sei.

Der Drächengrudel war in der Küche und half das Essen bereiten. Die herrlichsten Gerichte wurden vom Koch zubereitet und zuletzt auch kleine Kuchen. Da fragte der Grudel den Koch, ob er nicht auch so einen backen dürfe. Der Koch machte ein böses Gesicht und schnauzte ihn an: «Was würde die Herrschaft sagen, wenn ich dich auch Kuchen backen liesse; so etwas versteht kein anderer Koch im ganzen Lande, geschweige denn ein so schmutziger Drächengrudel wie du!» «Nun, wenn er nicht gerät, so werde ich ihn selber essen», sagte der Grudel und bat so lange, bis der Koch lachen musste und sagte: «Meinetwegen, es ist besser, du issest dein eigenes Backwerk, als meine feinen Gerichte!» Da machte sich der Grudel an die Arbeit, und als der Kuchen gebacken war, duftete er unsäglich fein und war auch der bestgeratene und der schönste von allen, dass der Koch selbst fand, man dürfe ihn oben auf die Platte legen und mit den andern hineintragen in den Speisesaal. Der Grudel aber hatte das Ringlein des Prinzen vom Finger gezogen und heimlich in den Kuchen hineingesteckt. Die Platte wurde aufgetragen und der schöne Kuchen, der zuoberst lag, dem Prinzen, der heute nicht lustig sein mochte, vorgelegt. Er schnitt ihn entzwei, und da fiel das Ringlein heraus. Er wurde ganz blass vor Freude, dann aber schoss ihm das Blut in die Wangen. Die Traurigkeit war wie auf einen Schlag weggewischt, und seine Augen leuchteten. Er liess den Koch kommen und fragte ihn, wer den obersten Kuchen gebacken habe. Der Koch erschrak und dachte, es sei etwas nicht in Ordnung und stotterte: «Verzeiht, hoher Herr, der Drächengrudel hat mich gebeten, auch so einen Kuchen backen zu dürfen, und da er so schön bitten konnte, habe ich ihn gewähren lassen. Es soll gewiss nicht mehr geschehen, und wenn . . .»

Der Prinz unterbrach ihn und befahl: «Sage dem Drächengrudel, er solle die schönen Kleider anziehen, die er Sonntags in der Kirche getragen hat und zu mir kommen!» Der Koch, der nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte und froh war, so gut davongekommen zu sein, eilte in die Küche und sagte zum Grudel: «Da hast du etwas Schönes angestellt mit deinem dummen Kuchen, grad der Prinz selbst hat ihn gegessen, und nun ist er rot vor Zorn im Gesicht, und du sollst hinaufgehen und die Sonntagskleider anziehen und vor ihm und der ganzen Gesellschaft im Speisesaal erscheinen. Jetzt kannst du sehen, mit dem Drächengrudel ist es aus! Aber es geschieht dir recht! Marsch! Mach, dass du fortkommst!» Der Grudel hatte schon die Küchenschürze losgebunden und warf sie dem Koch an den Kopf, aus lauter Freude, dass er sie aus der Küche fortjagte. Nun hüpfte sie in ihr Zimmer hinauf, wusch und kämmte sich, liess wie jeweilen am Sonntag die goldenen Haare in langen Strähnen über die Schultern niederwallen und zog alle drei Kleider an, das Sonnenkleid zuerst, dann das Mondkleid und zuoberst das Kleid des Firmamentes, das mit Gold- und Silbersternen übersät war. Sie besass aber nur einen Schuh, der zu den Kleidern passte, da der andere unten im Saale war, aber das machte nichts. Sie rauschte in ihren wunderbaren Kleidern die Treppen hinunter, trat in den Saal und schlüpfte vor der ganzen Tafelrunde schnell in den Schuh, der noch am Boden lag und ihr wie angegossen sass. Nun richteten sich aller Augen auf die wunderschöne Jungfrau. Wie wenn sie vom Himmel herabgestiegen wäre, so erschien sie ihnen; der Prinz aber stürzte zu ihr hin, fiel aufs Knie nieder, küsste ihr die Hände, führte sie an den Tisch neben seinen Platz und hiess sie vor allen Anwesenden seine Braut.

Am nächsten Tage sandte die glückliche Braut einen Boten mit einer grossen Summe zu dem Bettelmädchen vor die Stadt, das den Wagen noch in Verwahrung hielt. Der Vater und sein Nachbar wurden im Wagen abgeholt und zu der Hochzeit geladen.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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