Im Lande Rätien war ein Mann, der war arm, aber einen kräftigern und schönern fand man im ganzen Gebirge nicht. Und dieser Mann konnte auswählen unter den Töchtern der Berge. Aber er sah nicht auf Tugend, sondern auf Besitztum und Schönheit.
Der Mann war mildherzig und »gebig«, wie der Samariter, – sein Weib, das war aber geizig und »häbig«, wie ein heuchelnder Pharisäer. Er konnte dem Weibe nie zu viel arbeiten und zu wenig essen. Die Weiber der Nachbarschaft nährten reichlicher und pflegten besser ihre Hündlein. Dies machte den Mann wehmütig und niedergeschlagen; er wünschte sich selber den Tod. Schönheit und Kraft entschwanden ihm, wie den Bäumen die welken Blätter, wenn der Winter mahnt.
Einmal ging der Mann in den Wald, um Holz zu fällen für den Winter. Er hatte gearbeitet während vieler, vieler Stunden und nicht herumgeschaut, um besser Mißgeschick und Hunger zu vergessen. Endlich brachte das reiche Weib ihm zum »Marend« ein Stücklein verschimmeltes Brot und eine sorgfältig ausgehöhlte Käsrinde. – Das Weib legte diese in einen zerrissenen Lappen eingewickelte Mittagsmahlzeit auf die Erde, schaute um sich und schnurrete, auf ihren Mann sehend, »wie wenig Arbeit für Das, was Du mir allein für das Essen kostest!« – Er schwieg, der abgehungerte Mann, und eine Träne, so groß wie eine Haselnuß, rollte auf seine Hand herab. Sie aber kehrte ihm den Rücken zu und begab sich mit ihrem ausgemästeten Leibe nach Hause.
Jetzt hob der Arme die Mittagsgabe seines Weibes von der Erde, setzte sich bei der nahen Quelle und erweichte das verschimmelte Brot und die steinharte Käsrinde, um sie besser kauen zu können. Und während er dies tat, flog ein Rabe mit seinem heisern »Rock, Rock, Koa« über ihm durch die Lüfte dahin. – »O Weib!« rief er aus, »möchtest Du nur für ein einzig Jahr in einen solchen Raben verwandelt werden, um durch Winterkälte und Hungerplage menschlich fühlen zu lernen!«
Kaum waren diese Worte seinen Lippen entgangen, als ein altes Weiblein vor ihm stand, gebeugt auf einen Stab. »Dein Wunsch ist erfüllt,« sprach die Alte freundlich ihn an. »Siehe, dort schwebet ein Rabe durch die Luft, dieser schwarze Geselle war Dein Weib, das Dich quälte durch Hunger und Gezänke.«
Und er blickte auf und hörte die Stimme seiner Urschel flehend: »Hans, ach Hans, vergib!«
Die Alte aber blickte den Hans an und sagte weiter: »Sie muß, wie Du es gewünscht hast, nun ein volles Jahr Rabe bleiben und Winterkälte und Hungerplage erdulden. Fliegt sie aber vor dieser Zeit vor das Fenster Deiner Wohnung und bittet um Einlaß und Nahrung, und Du wärest schwach genug, es zu gewähren, so ist sie erlöset und Du selbst mußt dann ein Jahr Rabe bleiben.«
Grimmig kalt trat nun der Winter auf, Fluß und Sumpf waren mit Eis bedeckt. Die Vögel irrten herum und froren, und fanden keine Speise.
Da setzte sich aufs Fenstergesimse ein hungriger Rabe und flehte um Einlaß und Futter. Hans, mitleidig und »gebig«, öffnete dem armen Gaste, ohne ans Weiblein im Walde zu denken, das Fenster. – Aber, gleich flog er selber als Rabe in die kalte Schneeluft hinaus. – Umsonst war sein Nahen und Bitten, – Urschel war geizig und »häbig« und öffnete nicht.
Doch nach Jahreslauf kam Hans in seiner vorigen Gestalt. Urschel bereute, was sie früher getan. – Sie lebten fortan glücklich, wie Mann und Frau immer es sollten.
Quellen: Jecklin, Dietrich: Volkstümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874
und Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.