Eine Viertelstunde von Agarn entfernt steht das alte Schloss Mageran, das heutige Greisenasyl.
Dort wollten viele Leute, besonders Temperkinder, wenn sie abends von der Arbeit nach Hause zogen, eine über alle Massen schöne, von golddurchwirkten Gewändern umflossene Frauengestalt mit einem Bund Schlüssel an der Seite gesehen haben.
Das war das verwunschene Schlossfräulein, das auf Erlösung wartete. An gewissen Tagen des Jahres war es ihr gestattet, sich vor das Tor des Schlosses zu begeben. Dort setzte sie sich auf einen Stein nieder, blickte unverwandt hinunter auf die Strasse und winkte den Vorüberziehenden mit ihrer schneeweissen Hand, zu ihr heraufzukommen, um sie dem unheilvollen Schicksal zu entreissen.
Wohl manchen schon gelüstete es, angezogen durch die unnennbare Schönheit der armen Jungfrau und gerührt ob ihrer Traurigkeit, dem stummen Rufe zu folgen. Allein das Flehen und Warten der schönen Dame war umsonst; denn einen jeden, der es wagen wollte, hinzugehen, befiel eine unsägliche Angst.
Jedesmal aber, wenn sie den Vorübergehenden gewinkt hatte und ihre Mühe vergeblich gewesen war, barg sie ihr zartes Antlitz in beide Hände und fing bitterlich zu weinen an; denn dann wusste sie, dass wieder eine Gnadenstunde vorüber war und sie für lange Zeit nicht mehr auf Erlösung hoffen durfte.
AGARN
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch