In dem von jeher berüchtigten Pfinwald wohnte lange Zeit ein grosser Räuber mit Namen Pisür. Seine Wohnung soll er beim sogenannten Berüschohubel aufgeschlagen haben. Tagsüber verkehrte er freundlich mit den Leuten, ganz besonders mit den nahe wohnenden Salgeschern, denen er sogar die Gastfreundschaft zur Schau trug. Brach aber die Nacht heran, dann lauerte er bei der unheimlichen Pfinwaldstrasse dem unglücklichen Wanderer auf, tötete ihn, beraubte ihn und begrub dann den Leichnam in einem abgelegenen Winkel des Waldes.
Mit diesem Pisür soll nun ein gewisser Mathier aus Salgesch so intim gewesen sein, dass Pisür sogar Gevattermann dieses Mathier wurde.
Mathier pflegte, gegen die Sitte seiner Ortsleute, immer sehr frühe in die Pfinwaldgärten zu gehen. Selbstverständlich machte Mathier seinem Gevattermann jedesmal einen Besuch. Auf einen kühlenden Tropfen Wein konnte Mathier immer rechnen. Leider wiederholte sich diese Visite allzu oft und allzu früh. Pisür musste zweifelsohne bei dieser Morgenfrühe an einer Arbeit sein, die er ungestört verrichten wollte. Als Mathier einmal wieder so früh kam, sagte Pisür wild zu ihm: « Komme mir nicht mehr so früh, sonst fehlt es dir einmal!» Mit diesen Worten lud er ihn wie gewöhnlich zum Schoppen ein. «Nun trinke», sagte der Räuber, nachdem er einen grossen Krug gefüllt hatte. «Herr Gevatter», sagte Mathier, der merkte, dass heute anderes Wetter sei, «der Krug liegt in guter Hand, trinken Sie heute einmal zuerst.» Wie der Räuber den grossen Krug zum Munde führte, schlug ihm Mathier mit seinem Stocke den Krug ins Gesicht, dass Pisür umfiel.
Mit Blitzesschnelle eilte Mathier aus dem Keller, bestieg sein Ross und ritt dem Dorfe zu. Kaum hatte Mathier die sogenannte Profenschingscheune hinter sich, da sah er Pisür auf einem schwarzen Bock schon ganz nahe. Zwei, drei Sätze noch, und Mathier fühlte, wie mit einem Säbelhieb der linke Flügel seines Rockes davonflog. Es wäre um ihn geschehen gewesen, hätte er nicht Leute um Hilfe gerufen. Auf das Erscheinen der herbeieilenden Arbeiter verschwand Pisür.
Dieser Mann musste beseitigt werden. Aber wie? Man kam überein, bald ein Gemeindemahl zu veranstalten und ihn dazu einzuladen. Damit er ja nichts merke, dass man etwas im Schilde führe, bat man ihn, seine Dienstmagd als Köchin kommen zu lassen. Dankend nahm er von der Abordnung die Einladung an und gewährte zugleich die Bitte, die Magd als Köchin ziehen zu lassen.
Man besprach sich mit der Köchin, die den Plan der Leute begünstigte. Sie verriet, dass er, solange er mit den Füssen den Boden berühren könne und mit zwölf Messern bewaffnet sei, unüberwindlich bleibe. Der Tag kam. Alles war im Gemeindehause versammelt. Als Ehrengast nahm Pisür den Ehrenplatz ein, nahe um ihn hatten zwölf der stärksten Salgescher Platz genommen. Während des Essens fehlte dem einen oder andern Salgescher, der absichtlich später kam, das Tischmesser.
Deshalb trat bald der eine, bald der andere Bediente zu Pisür hin mit dem Gesuche: «Es fehlt uns ein Messer, könnten Sie uns vielleicht mit einem dienen?» Als man so das letzte Messer ausgelockt hatte, sprang man auf ihn los, packte ihn, ohne ihn Boden berühren zu lassen, und trug ihn aus dem Gemeindehause. Auf einem bereitgehalten Wagen führten sie ihn nach Sitten, um ihn da der Gerechtigkeit zu überliefern.
SALGESCH
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch