Wie es manchem Geiss- und Kuhhirten gern passiert, so ist es auch dem Geisshirten im Fanoischi beim Hüten ergangen. Den ganzen Morgen hindurch hatten ihm seine Schutzbefohlenen durch ihre Widerspenstigkeit viel Zorn und Verdruss verursacht. Müde legte er sich nun während er schwülen Mittagszeit unter eine weitästige Föhre, die Ziegen der Obhut seines Wachhundes anvertrauend. Gegen Abend trieb er seine Herde wohlgemut gegen Leuk zu. Doch sein Frohsinn schwand, als er im Geissstall in Leuk eine schwarze Ziege vemisste. Fast hätte es ihn gelüstet, das verlorene Tier seinem Geschick zu überlassen; doch der Gedanke, dass die Ziege die einzige Milchkuh eines armen Mütterchens war, bewegte ihn, sich noch am selben Abend auf die Suche zu begeben.
Er durchirrte rastlos den im Dunkel liegenden Pfinwald und die gespensterhafte Felsschlucht des Fanoischi, das verlorene Tier immerfort zärtlich bei seinem Namen rufend. Kein meckernder Laut ertönte als erlösende Antwort. In aller Angst begab er sich in raschen Schritten auf den Heimweg.
Da tauchte plötzlich mitten im Walde eine schwarz gekleidete Männergestalt auf, die dem Fliehenden den Weg versperrte und ihm schweigend zu folgen winkte. Willenlos und gelähmt vor Schrecken folgte der Geissbub der Erscheinung. Da plötzlich verschwanden Weg und Wald und Felswand, und der Geisshirt stand mitten in einer geräumigen Halle. An prasselndem Feuer wurde gesotten und gebraten, finster blickende Diener drehten den Bratspiess, und feiner Bratenduft stieg dem Geissbuben in die Nase, doch ihn gelüstete nicht nach dem feinen Schmause; hastig wollte er durch eine gegenüberstehende Türe entweichen, doch er gelangte statt ins Freie in einen grossen, matt erleuchteten Saal.
Dort sassen in langer Reihe schwarzgekleidete Herren mit weisser Krause und wallenden Haaren an einem langen Tische und schrieben wortlos mit feurigen Kielen, während der Vorsitzende mit düsterer Stimme aus einer Pergamentrolle vorlas.
Verschüchtert und sprachlos stand der Geisshirt am Ende des Tisches. Da wies einer der Herren mit einladender Bewegung auf ein nahestehendes Prunkbett, und der Geissbub war froh, seine abgehetzten Glieder in den weichen Flaum legen zu können.
Doch der unterste am Tische, ein Herr mit traurigem, mildem Gesichte, flüsterte ihm ins Ohr: «Versuch es zuerst mit deinem Stocke!» Der Geissbub steckte den Stock unter die Decke und zog ihn bis an den Knopf lichterloh brennend zurück. Da entstanden ein heftiger Krach und schallendes Getöse. Alles war verschwunden. Wieder rauschte der Wald, und die Felsgebilde grinsten den Hirten an, neben ihm aber stand die schwarze Ziege. Sie traten beide den Heimweg an und erreichten Leuk. Den Buben aber packte ein heftiges Fieber, und er war nach drei Tagen eine Leiche.
LEUK
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch