Die Güsler aus dem Fanoischi

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In der guten alten Zeit war es nicht Sitte, dass die Knechte und Mägde ebenso lange schliefen wie die gestrengen Herrschaften. Auch hielt man nicht eine Magd für das Hauswesen und eine zweite für die Verpflegung des Viehstandes. Diese mannigfaltige und schwere Arbeit wurde von einer und derselben Person besorgt.

So wurde es auch in einer Ratsherrenfamilie von Leuk gehalten. Die Magd führte das Hauswesen, und dazu ging sie jeden Morgen beim ersten Hahnenschrei nach der Suste, um dort das Vieh ihres Herrn zu besorgen.

Lange Zeit wanderte die treue Magd von Leuk nach der Suste, ohne etwas Ungewöhnliches zu bemerken. Wie sie aber an einem Quatembertage beim Morgengrauen auf die damals gedeckte Rottenbrücke kam, schlug vom Fanoischi her ein unerwartetes Getöse wie Hufschlag und das Wiehern von Pferden an ihr Ohr. Und wie sie in der höchsten Verwunderung in die angegebene Richtung schaute, da schien ihr der unheimliche Lärm durch den Ilgraben daherzurasen.

Einen Augenblick verstummte er, dann aber scholl das Sporenklirren und das Rasseln der Säbel heftiger, und nun entstiegen dem Bette des Ill schwarze Hengste mit fliegenden Mähnen und feurigen Hufen. Auf ihrem Rücken sassen schwarzgekleidete Herren mit weisser Krause und Dreispitzhut. An ihrer Seite hingen silberne Säbel, und die Sporen glänzten wie Gold.

Und wie der wilde Tross daherraste und über die Brücke flog, da glühte der Boden unter den Hufen der Rosse. Feuergarben entquollen den geblähten Nüstern, und es entstand ein solcher Luftzug, dass sich die Magd an der Brückenlehne festklammern musste, um nicht weggeschleudert zu werden.

So jagte der geheimnisvolle Tross über die Brücke, nahm die alte Strasse und verschwand hinter den Krümmungen, Felsen und Sträuchern des Feldwegs. Das letzte Pferd aber, eine blendendweisse Stute, blieb einen Augenblick bei der Magd stehen, und diese erkannte in tödlichem Schreck das Reitross ihres Herrn. Aber mit keinem Sterbenswörtchen verriet die Magd, was sie gesehen und erlebt hatte, da sie den Spott ihrer Meisterleute fürchtete.

Am folgenden Morgen um dieselbe Zeit wiederholte sich der seltsame Ritt, und die Magd fasste mit Aufwendung ihrer ganzen Willenskraft den letzten Reiter, der wiederum neben ihr hielt, fest ins Auge und erkannte in ihm ihren Gebieter.

Nach ihrer Heimkehr in Leuk trat sie entschlossen vor den Herrn hin und fragte: «Herr, wo habt Ihr Euch heute in der Frühe aufgehalten? Ihr seid mir auf der Rottenbrücke begegnet.» Dieser lachte hell auf und erwiderte: «Um diese Stunde lag ich noch ruhig im Bett.» Da erzählte die Magd alles haarklein und beschrieb aufs genaueste den Mantel und die Kleider des letzten Ritters, die auch ihr Meister an hohen Tagen zu tragen pflegte. Diesen fasste ob der Erzählung ein geheimes Grausen, und er sprach lächelnd zur Magd, teils um seine Furcht zu verbergen, teils um sich von der Richtigkeit des Erzählten zu überzeugen: «Nimm morgen eine Schere mit und schneide dem letzten Reiter einen viereckigen Lappen aus dem linken Mantelende, wickle ihn fest um die Schere und bringe ihn mir her!»

Am dritten Morgen geschah wieder, was sich schon zweimal ereignet hatte, und wie das letzte Pferd neben der Magd anhielt, da zog sie rasch die Schere hervor, schnitt einen viereckigen Lappen aus dem linken Mantelende, steckte ihn sorglich in die Tasche und kehrte eilig heim, ohne das Vieh besorgt zu haben.

Ihr Meister aber erwartete sie schon ungeduldig und rief ihr zu: «Sind sie wieder erschienen?» Sie aber reichte ihm statt aller Antwort den ausgeschnittenen Lappen hin. Er begab sich damit wankenden Schrittes zur Kleiderkammer, wo der Ratsherrenmantel aufgehoben war, und kehrte nach kurzer Zeit weiss wie ein Leichentuch mit ergrauten Haaren aus der Kammer zurück. Noch am selben Tage legte er sein Amt als Ratsherr nieder.

LEUK

Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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