Der Untergang der Illalpe

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Am südlichen Abhange des Illhorns dehnte sich die grasreiche Illalpe aus. In den Sommermonaten bis in den Herbst hinein weideten dort Hunderte von Kühen. Die Alpe war weitgedehnt; sie erstreckte sich hinauf bis an die Grenzmarken der Eifischer Alpen, wo die deutschen und welschen Viehrassen im Hochsommer friedlich miteinander grasten. Die Alpe bot darum genügend Gras, bis die Tage des kühlen Herbstes selbst zur Rückfahrt mahnten. Eines Sommers aber, um die Mitte des Monats August, entlud sich ein furchtbares Ungewitter über die Gegend. Geister wühlten das weissliche Erdreich auf, und ein furchtbarer Erdrutsch begrub die schöne Alpe mit ihren Bewohnern unter Schutt und Trümmern; ja der träge dahinrollende Schlamm wälzte sich bis ins Rottenbett und überschüttete die ganze Pfinebene mit klafterhohem Geröll. Aus war es mit der Herrlichkeit der einst so schönen Alpe und die weiter hinten gelegenen Stafel, welche nicht mehr befahren werden konnten, fielen den Eifischern anheim, ohne dass eine Entschädigung dafür geboten wurde. Waren es die Geister der Verschütteten, war es die widerrechtliche Besitznahme der Alpe? Die Eifischer konnten der neuerworbenen Alpenteile nicht froh werden. Nach dem Feste Maria Himmelfahrt begannen die Alpenkühe dahinzusiechen und gaben fast keine Milch mehr. Man war daher gezwungen, jeweilen am Vorabend von Maria Himmelfahrt die Alpe zu verlassen. So war es Brauch gewesen seit vielen Jahren.

Einmal wollte man es doch versuchen, das Vieh einen Monat länger als sonst auf der Alpe zu behalten, weil der Graswuchs gar so üppig war und es geradezu schade gewesen wäre, die krautreiche Alpe bei dieser Grasfülle schon so früh zu verlassen.

Es war am Nachtag von Maria Himmelfahrt. Die Kühe lagen abends eingepfercht auf der Lagerstätte. Da ritten drei Reiter heran, trieben das Vieh vom Lager auf und jagten es unter klingendem Trichel-und Schellengeläute die Halden hinunter. Der Hufschlag der dahertrabenden Rosse und erst noch das Geläute der aufgeschreckten Viehherde weckten den Hirten und Sennen. Sie eilten hinaus vor die Hütte und sahen den Stafel leer; nur in der Ferne noch hörten sie die Schellen und Tricheln der Kühe allmählich verhallen.

«Auf und ihnen nach!» kommandierte der Senn dem Hirten. Und dieser lief die steilen Halden hinunter so schnell, dass es ihn wundernahm, wie er eigentlich fortkam, ohne sich hundertmal zu überschlagen und zu kugeln. Erst beim Dorfe Vissoie holte er die Kühe ein. Beim Leichenhause standen sie still. Dort war eine Leiche. Es war alter Brauch, dass die Leichen der während der Woche Verstorbenen in diesem Leichenhause aufgebahrt blieben, bis sie am darauffolgenden Sonntag auf einem Saumpferde nach dem Kirchhof in Leuk überführt wurden.

Vor diesem Leichenhause erklärte der erste Reiter dem Hirten: «Führe deine Herde zurück; gesühnt ist die Strafe, wenn einmal Leuk seine Entschädigung für die Alpe erhält; kein Geist wird das Alpenvieh mehr belästigen. Dann wird aber auch das andere kommen, dass die Toten auf einheimischen Friedhöfen des Eifischtales ruhen können.» Die an diesem Abend in Vissoie aufgebahrte Leiche war die letzte aus Eifisch, die in Leuk begraben wurde. Droben auf der Alpe hatte man fortan nichts mehr zu leiden, seitdem das alte Unrecht gutgemacht war.

LEUK

Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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