Ein Geisshirt, der alltäglich seine Ziegen in die Hut Feschel trieb, kam mit seiner Herde an einem heissen Tage in die Breitu Rufinu. Die Sonne stand bereits am mittäglichen Himmel und versengte beinahe mit ihren Strahlen die magern Abhänge. Der Hirt sah sich nach einer schattenspendenden Stelle um, damit er der drückenden Hitze entgehe. Deshalb kletterte er an den hohen Felsen umher und fand wirklich ein schattiges Plätzchen unter einer Palme, von wo er zugleich die Herde überblicken konnte. Unter dieser Palme legte er sich hin, und da der Tag gar so schwül war, fielen ihm die Augenlider zu, und er schlief ein.
Wie lange er dort geschlafen haben mochte, wusste nicht; als er aber erwachte, befand er sich in einer Höhle des Berges. Die Wände der tiefen Grotte waren aus dichtem Silber. Gold- und Silberkerzen, dick wie Ankenkübel, standen am Boden und hingen in Massen am hohen Gewölbe. Die Wände entlang lagen, in Haufen zusammengeworfen, unzählige Klumpen glänzenden Goldes und lautern Silbers. In der Mitte der Höhle sah er einen runden Tisch, an dem drei Herren schliefen.
Als er sich an all der Pracht geweidet und die drei seltsamen Herren genugsam betrachtet hatte, sah er sich nach einem Ausgange um. In einem Winkel der Höhle erblickte er eine kleine Pforte, über deren Klinke ein weisser Gürtel, ähnlich einem Weisskleidgürtel, hing. Er schritt auf die Türe zu, öffnete sie und trat hinaus ins Freie. Sofort schloss sich hinter ihm die Pforte von selbst wieder. Wie er sich genau umsehen wollte, um ein anderes Mal die Schatzkammer wiederzufinden, konnte er keine Spur von einem Eingange mehr entdecken. Darum merkte er sich einen weissen Stein, der diesseits, und ein dürres Bäumchen, das jenseits der Stelle lag, auf der er stand, um so wenigstens den Platz wiedererkennen zu können.
Am Abend kehrte er mit seinen Ziegen heim und erzählte das Ereignis seinen Eltern. Diese hörten ihn neugierig an. Als er aber geendet hatte, fragten sie ihn vorwurfsvoll, warum er den weissen Gürtel nicht genommen habe. Dieser Gürtel sei der Schlüssel zur Schatzkammer gewesen, darum habe er an der Klinke gehangen.
Am folgenden Tage hütete der Hirte seine Herde wiederum bei der Breitu Rufinu. Auf Geheiss der Eltern und aus eigenem Antrieb ging er abermals hin, um die Wunderhöhle zu suchen. Allein seine Mühe war umsonst, und vergeblich kletterte er an den steilen Felsen umher. Der Berg mit seinen Schätzen tat sich nicht mehr auf. Denn einmal hatte der Berg dem Hirten den weissen Gürtel, den Schlüssel zu seinen Schatzkammern, gezeigt und ihm schenken wollen. Dieser aber hatte die eine und einzige Gelegenheit versäumt und darum das nahe Glück auf immer verscherzt.
FESCHEL
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch