Ein noch Lebender hat 's vom Sohn dessen, dem dies begegnet ist. Es war in Jngenbol ein junger Bursch dem eben der Bart sprosste. Was geschieht in solchen Tagen der Jugend? Kurz, der junge Niderist ging z' Licht. Da hat er sich aber allzulang aufgehalten und weil er einen strengen Vater hatte, wagte er 's nicht so spät in der Nacht zu Hause anzuklopfen, sondern schloff in ein Stadel aufs Heu. Zur selbigen Zeit aber gab 's noch eine Menge Landstreicher und Bettler, die gewöhnlich in den Scheunen übernachteten. Es war Sonntag. Niderist war nicht lang auf seinem Lager, als er unten im Gaden verschiedene Stimmen hörte, darunter einige bekannte. „Eh lueget, die alt Gret chunt au!" hiess es. Die alt Gret war eine - Hexe. Und weil sie eben ihre Pfanne bei sich hatte, so gaben die Bettler nicht nach, bis sie in ihrem Häfeli eine Salbe rührte, welche zu einer Luftreise geschickt machte. Sie rührt und rührt, dann murmelte sie der reiselustigen Gesellschaft einige Worte vor, welche oben auf dem Heu Niederist hörte und aus Wunderfitz auch mitsprach. Es hiess:
Oben us und niene a,
Wett i wär z' Wien bis Dunggis Ma.
Potz Blitz wie saust das durch die Lüfte! Niderist ist mit den Übrigen wie aus dem Himmel gefallen in eine ganz fremdi Stadt. - Das war Wien. Alles kam ihm so ganz anders vor als daheim. Auf seinem Kopfe sass ein gelbgeschwefelter Schinhut; ein rotes Wams schmiegte sich um seinen Leib bis auf die Lenden herab, hirschlederne kurze Hosen deckten seine Beine.
Aber so kamen hier die Leute nicht gekleidet. Die Wiener Polizei nahm deshalb den seltsamen Fremdling aufs Korn und der Jngenboler hörte zum erstenmal in seinem Leben den Namen „Pass". - Was ein Pass sei, hatte er weder daheim noch auf seiner Wienerreise zu erfahren und wissen Not und Gelegenheit gehabt und eben so sehr befremdete es ihn, dass man in Wien ihn nicht als des Nidristen Sohn von Ingenbohl erkennen wollte. Hatte doch in ganz Wien kein junger Gesell so hübschen geschwefelten Schinhut und so solide Lederhosen wie er, und Geld, meinte er, habe sein Vater daheim schon, er brauche keins bei sich zu führen. Freilich glaubten denn die Wiener Sicherheitsleute endlich doch aus dem ganzen Wesen und Sprechen des Unbekannten, dass er wohl aus Ingenbohl nah am Vierwaldstättersee her sein werde und konnten ihm nur gut sein. Deshalb verhalfen sie ihm gerne zur ehrlichen Reise in die Heimat, allwo ihn zeitlebens die famose Wienerfahrt in Gehirn und Mund viel beschäftigte. Man nannte ihn darum nur der „Wiener-Niderist.“
Quelle: Alois Lütolf, Sagen, Bräuche, Legenden aus den fünf Orten Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug, Luzern 1865. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch.