Der Wittnauer Hans

Land: Schweiz
Kategorie: Novelle

Der Wittnauer Hans war noch ganz klein, als sein Vater in einem Steinbruch zu Tode fiel; und nicht lange danach starb auch seine arme Mutter, die ihr liebes Leben lang sich mit Spinnen abgearbeitet hatte. Sie hatte aber dem Hans noch einen guten Rat gegeben, bevor sie die Augen schloss, und den führte er auch gleich an dem nämlichen Tag noch aus, da sie die Mutter beerdigt hatten. Er machte sich auf den Weg und ging zu einem reichen Vetter, der droben auf dem Berg ein grosses Bauerngut besass. Aber da kam er zuerst übel an. Denn der Vetter war ein alter, mürrischer Kauz und der grösste Geizhals weit und breit. Weil jedoch Hans nicht nachliess mit Bitten und Beten, dass er ihn doch in seinen Dienst nehmen möchte, da er nun so ein armes Waislein sei, der auf der Welt nichts habe, so sagte der Alte endlich brummend: »He so nu so denn! Wenn du mir den Herbst über das Vieh hüten und dich gut halten willst, so kann man's ja mit dir probieren. «

So war der Hans ausser Sorgen. Alle Morgen in der Frühe, Sonn- und Werktage, fuhr er mit den acht Kühen und zwei Kälbern des Vetters auf die Weide den Berg hinan und hatte jedes Mal seine grösste Freude, wenn er drunten im Tal den Rauch aus seinem alten Heimatort aufsteigen sah oder die Kirchenglocken von dort heraufschallten. Mit der Zeit aber wurde ihm schwer ums Herz, so oft er dort hinunterblickte, und es war ihm, als sei er schon eine Ewigkeit fort, und hatte keine Ruhe mehr, bis er endlich wieder einmal heim durfte. Er gab also eines Tages seine Herde dem Schäfer in die Hut, der neben ihm auf dem Berge die Schafe hütete, und ging hinab nach der Kirche, wo sein Vater und seine Mutter begraben waren und feierte andächtig den Gottesdienst der Gemeinde mit. Und dies wiederholte er noch mehrmals.

Aber als er einmal am Sonntagabend des Vetters Herde nach Hause trieb, und der Vetter schon von der Haustüre aus zu seinem Schrecken sah, dass dem Hans nur neun Stücke zur Hand waren und das schöne rote Kalb fehlte, da ging ein anderes Wetter übers Land. Grimmig fuhr der Vetter auf Hans los; der aber merkte, wie viel Uhr es geschlagen, und nahm einen Satz auf die Seite nach dem Stall zu, wo gerade der Knecht einen grossen Haufen Heu aufgeworfen hatte; da hinein bohrte er sich mit dem Kopf, dass alsbald nur noch die Füsse herausguckten. Da packte der Vetter in der Wut die Heugabel und stach hinein; aber Hans war mittlerweile vollends hineingekrochen und die Gabel kitzelte ihn nur hinten an der Ferse, dass kaum ein Tropfen Blut daran hängen blieb. Als nun der Vetter das Blut sah, da vermeinte er aber nichts anderes, als dass er den Hans erstochen hätte. Er entsetzte sich, warf das Mordwerkzeug weg und lief heulend zum Tor hinaus und ins Weite. Als Hans merkte, dass der Vetter fort war, besann er sich nicht länger, kroch hervor und rannte gleichfalls so schnell davon, dass in dem Schrecken um den Meister niemand auf dem Hof ihm nachsah.

Spornstreichs lief er zu dem Schäfer auf den Berg und fragte ihn nach dem verlorenen Kalb. Allein der hatte nichts von dem Tier gesehen und gehört; doch erzählte er ihm, wie heute ein Trupp Diebsgesindel gerade da, wo Hans sonst weidete, sich zu einem leckeren Mahl gelagert habe; wer weiss, ob es nicht just das Kälblein zum Schmaus gestohlen hat. Das leuchtete dem Hans ein; er liess sich von dem Schäfer die Richtung zeigen, welche die Diebe genommen hatten und setzte ihnen unverzüglich nach. Bald sah er auch hellen Feuerschein durch die Tannen schimmern; vorsichtig schlich er näher, und richtig: da lagerte die Räuberbande zechend um ein grosses Feuer, und an einem Baume in der Nähe hing das rote Kalbfell. Da ging dem Hans ein Stich durchs Herz, denn das Kälblein war sein Liebling gewesen; und leise wollte er zurück schleichen; da knackte ein dürrer Ast unter seinem Fuss; die Räuber sprangen auf und ergriffen ihn; und ohne weiteres wurde er in ein leeres Fass gesteckt und da lag der arme Hans und hörte nur noch, wie die Gesellen ein Hohngelächter verführten und den Deckel zuschlugen.

Jetzt war guter Rat teuer; hätten die Räuber nicht bereits den Spunten aus dem Fass geschlagen gehabt, so hätte Hans ersticken müssen. Unterdessen hatte sich aber ein schweres Gewitter am Himmel zusammengezogen; der Wind pfiff durch die Tannen, und durch die Schluchten rollte der Donner; und Hans merkte, dass nach und nach das Knattern des Kochfeuers aufhörte und das Gespräch und der Lärm der Räuber verstummte. Diese hatten sich davon gemacht und ein Obdach unter den Heuscheuern der untern Bergmatten gesucht. Eben als Hans aus dem Fass kriechen wollte, kam jedoch einer von ihnen wieder hastig heraufgerannt, um das Kalbfell zu holen, das sie richtig vergessen hatten. Schon hatte er die Hand danach ausgestreckt, da kamen ein Blitz und ein Schlag, dass der ganze Baum in Flammen zu stehen schien. Der Räuber war zu Boden gefallen, Hans hörte ihn keuchen und sah zum Spuntloch hinaus, wie er sich aufsammelte und verblendet gegen das Fass taumelte – krach! Fing das Fass an zu rollen und rollte ohne aufhören bergunter von Satz zu Satz, die Reifen fuhren ab, die Dauben platzten, und Hans war befreit. Unten in der Tiefe sprangen die Trümmer klingend an eine Felswand; aber Hans blieb sitzen, gerade hinter der letzten Sturzklippe. Das Sausen und Dröhnen im Kopf vertoste, der Schmerz in den zerschlagenen Gliedern gab allmählich nach; aber jetzt war erst guter Rat teuer! Ringsum die rabenschwarze Nacht, auf schwindligen, unwegsamen Felsen, in der Nähe das gefährliche Gesindel und daheim der wütende Meister!

Um sich wenigstens vor den Räubern zu retten, kletterte Hans endlich durch die scharfen Felsenrunsen und über die Bergwasser hinunter, bis er den Boden eines engen Waldtals unter den Füssen hatte. Da sah er von fern ein Licht schimmern; darauf ging er los; denn das war der Waldhof, an dem er öfters seine Herde vorbeigetrieben hatte; und da das Unwetter eben noch einmal losbrach, so machte er keine Umstände, sondern schlich hinter dem Haus in die Obertenne, um sich da ins Stroh zu verkriechen; aber kaum hatte er angefangen, einige Garben zum Nachtlager auszubreiten, so drang durch den schlecht gebretterten Boden wieder ein Lichtschimmer zu ihm herauf; und da sah er mit Schrecken die Räuber alle wieder beisammen, die zechten und lärmten da von Neuem, und es schien Hans, als hielten sie erst jetzt die eigentliche Mahlzeit von seinem armen roten Kälblein; er hörte so was von Tellerklappern und Gabelstochern. Das musst' er doch wissen; also kroch er behutsam zu dem Garbenloche und wollte sich da zum Zusehen bequem auf ein Strohbündel der Länge nach hinstrecken – rutsch! rutsch! Da ging's plötzlich kopfüber und Hans schoss pfeilschnell aus dem Garbenloch mitten unter das Diebsgesindel hinab, wie das Brot in den Ofen. Eine mächtige Garbenmasse stürzte hinter ihm drein und eine mitfahrende Staubwolke verhüllte den Hans und die Garben dazu; und der Luftstoss hatte das Feuer ausgelöscht. Voll Schrecken stoben die Räuber auseinander, und da war Hans wieder allein und fühlte sich die Knochen, die zum Glück alle ganz und heil geblieben waren.

Rasch blies er das Feuer wieder an; da sah er nun auch, wie die wilden Gesellen gewirtschaftet hatten. So eine Mahlzeit hatte er noch nie mitgehalten: Braten und Wein die Hülle und Fülle. Hei, das liess er sich schmecken. Tapfer griff er's an und hörte nicht auf, bis er draussen die Räuber zurückkommen hörte, die sich allmählich von ihrem blinden Schrecken erholt hatten. Eilig schlüpfte er zur Hintertüre hinaus und versteckte sich in einen leeren Bienenkorb, den er in dem Bienenstand hinten im Baumgarten fand. Mittlerweile waren die Räuber ihrerseits wieder über den Braten und Wein hergefallen.

Nachdem sie sich aber gesättigt hatten, lüsterte ihnen nach einem süssen Nachtisch. »Zu diesen Ankenschnitten hier«, rief einer, »gehört auch Honig; kommt, wir wollen Honig holen! « Alsbald gingen ihrer zwei hinaus in den Garten zum Bienenhaus, und lüpften Korb um Korb, um den schwersten und ausgiebigsten herauszusuchen; und da griffen sie natürlich bald denjenigen an, in welchem der arme Hans sass. Der eine trug hinten, der andere vorne am Brette, worauf der Korb stand. Aber der eine behauptete, links gehe der Rückweg zur Scheune; der andere dagegen meinte, rechts müsse man sich halten, um nicht finsterlings im Baumgarten anzurennen und den vollen süssen Korb auszuschütten. Dem Hans schien dieser Streit ganz ergötzlich; und dieweil es stockende Finsternis um sie herum war, so konnte er nicht anders, es juckte ihm in der Hand, er langte also oben zum Schlupfloch heraus und stupfte den Vordermann heimlich in den Rücken. »Setz ab«, sagte der zum Hintermann, »was hast du mich zu stupfen? « Während der noch redete, zupfte Hans den Hintermann am Bart. »Und was hast du mich zu zupfen? « schnauzte dieser entgegen. Nun war das Wort wieder am andern; aber der liess jetzt das Brett fallen und ging auf den Kameraden los und die Ohrfeigen flogen nach allen Seiten. Während sich die beiden aus Leibeskräften zerwalkten, nahm Hans seine günstige Stunde wahr, hob den Korb über sich ab und sprang unbemerkt davon. Er lief und lief, und da nach solchen Abenteuern die Furcht vor dem Meister viel kleiner geworden war, so lief er gradaus nach dem Hof des Vetters. Als er nahe herzu kam, nahm es ihn wunder, warum alles so früh auf sei; die Weiber rannten hin und her, und die Knechte lärmten; die Hoftüre stand offen und alles Gesinde feierte. Ein Knecht sah ihn zuerst und rief: »Herr Gott, bist du's, Hans? wir alle glaubten, der Meister habe dich erstochen und verscharrt. Ihn selber haben die Schulkinder im Wald erhängt gefunden, er hat sich selbst gerichtet, der Schinder und Schaber. «

So wurde Hans aus einem armen Küherbuben ein reicher Bauer; denn er war der einzige Erbe des geizigen Vetters; und er lebte lange und glücklich, und die Armen waren's wohl zufrieden.

 

Quelle: Sutermeister, Otto: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz, Aarau:1869

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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