Die Ungetümer im Stalle

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Zu einem grossen Bauernhof im Amt Willisau kam einst ein alter Bettler und bat um Nachtherberge. Der Hofbauer hatte eben das Haus voll Leute und wusste da für einmal keinen Schlupfwinkel. Doch er wollte den armen Mann nicht abweisen und sagte: „Im Hause ist keine Gelegenheit; so weiss ich euch keine andere Herberg als in der Scheune oder, wenn

es sein muss, im Stall." – „Die Nächte sind kalt; bitte, lasst mich in den warmen Stall", flehte der Arme, dem gleich der andere entgegnete: „Bevor ich das zugebe, muss ich euch im Vertrauen sagen: erst gestern übernachtete hier ein fremder Geselle und der sagte beim Fortgehen: „Behüt euch Gott und mich vor diesem Stalle. Wenn mir schon jemand die ganze Welt verspräche, so möchte ich keine Nacht mehr hier zubringen". - „O, wenn nur das ist", fiel der Bettler ein, „so lasst mich nur unbedenklich daselbst übernachten; ich fürchte mich nicht." - „Ungern, aber wenn ihr es durchaus wollet, so sei es euch gestattet", war des Bauern Antwort. Nach gutem Nachtessen wandelt der Bettelmann zum Stalle, rüstet das Stroh zum Nachtlager, kniet dann zum andächtigen Gebete und legt sich neben den Ochsen und Kühen zum Schlafen. Um Mitternacht weckte ihn ein grausiges Rascheln. Er sieht ein Paar grosse Augen über ihm blitzen und hörte dann in wildem zornigem Tone die Worte: „Dem kann ich nichts antun, er liegt unter dem heiligen Kreuz Christi!" Kaum war dieses Ungeheuer fort, so nahte sich ein anderes und drohte, mit fürchterlicher Wut über ihn herzufallen. Aber darauf vernimmt er wieder das tröstende Geständniss: „Dem kann ich nichts antun, er liegt unter dem heiligen Leben Christi! " Und nahte zum dritten, vierten ja bis zum neunten Male ein ähnliches Ungeheuer, eines grauenhafter als das andere, und das letzte sprach wie im höchsten Grimm: „An dem kann ich nichts machen, er liegt unter dem Schutze der ganzen hochheiligen Dreifaltigkeit." Nun wurde es still. Der Bettler sprach wieder sein Segensgebet und schlief dann ungestört und sanft bis zum hellen Morgen.

Der Hofbauer verwunderte sich nicht wenig, als er den Bettelmann so heiter und wohlgemut erblickte. Erst nach dringendem Anhalten wurde letzterer bewogen, dem Bauer den merkwürdigen Hergang in der Nacht zu erzählen. Als er nämlich sich überzeugte, dass der Hofbauer nicht aus Vorwitz, sondern in frommer und gottesfürchtiger Absicht so dringlich forschte, so erzählte er ihm genau, was ihm begegnet sei und vertraute ihm auch das kräftige Schutzgebet, welches ihn bisher vor derlei Unfällen behütet habe. Der Hausvater schrieb diesen Segen wörtlich auf, lehrte ihn auch seine Hausgenossen und alle beteten ihn andächtig beim täglichen Abendgebet. Von nun an verschwand der Spuck im Stalle, und der Bettelmann wurde auf diesem Bauernhöfe in hohen Ehren gehalten.

 

Quelle: Alois Lütolf, Sagen, Bräuche, Legenden aus den fünf Orten Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug, Luzern 1865. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch.

 

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