Vor Zeiten war einmal ein Riese, der machte sich auf den Weg, ob er einen fände, der ihm an Mut und Stärke gleich wäre. Er kam auf einen Berg, und wie er da zur Kurzweil einen schweren Stein von der Felswand brach und ihn in die Tiefe schleuderte, begann von unten herauf einer zu brummen; und alsbald erhob sich ein gewaltiger Kerl, den hatte der Riese am Kopf getroffen und aus dem Schlaf geweckt; da aber der Stein ihn sonst an Haut und Haar nicht verletzt hatte, wurden die beiden auf der Stelle gut Freund und waren beide froh, dass sie ihresgleichen gefunden hatten.
Wanderten also wohlgemut zusammen weiter und kamen bald zu einer Nagelfluhwand, an welcher sie ihre Kraft erproben wollten. Der erste nahm einen Anlauf und putschte mit dem Kopf ein Loch in die Wand, dass er den halben Kopf darein verbergen konnte. Der andere aber putschte sich so tief hinein, dass er seinen Kopf nicht mehr herausbrachte und verzappeln musste. Da war der erste zornig, dass er seinen Kameraden schon so bald wieder verloren hatte, und schwur, den Tod desselben an dem ersten Besten, der ihm begegnen würde, rächen zu wollen.
Nicht lange, so lief ihm ein armer Schneider in die Hände. »Du kommst mir gerade recht!« rief der Riese und streckte die Hand nach ihm aus. Aber der Schneider war nicht faul, tat einen kühnen Seitensprung und prahlte: »Potz tausend, mit wem meinst du, dass du's zu tun habest? Wollen wir wetten, ich bin stärker als du?« Das nahm den Riesen doch wunder. »Nun«, sagte er, »auf eine Probe kann man's ja ankommen lassen; mach's nach!« und damit hob er einen zentnerschweren Stein vom Boden. »O ich kann noch viel mehr, ich kann den härtesten Kiesel mit meinen Fingern zerreiben«, sagte der Schneider, tat dergleichen, als ob er einen Kieselstein ergriffe, langte aber dabei unvermerkt in seinen Schnappsack, worin eine Balle Ziger lag, und zerrieb diese, dass das Wasser heraustroff. Davon bekam der Riese gewaltigen Respekt vor dem Schneider; er nahm ihn zu seinem Kameraden an, und sie liefen miteinander fürbass und kamen in eine grosse Stadt, wo der König seinen Palast hatte.
Allein statt Lust und Freude fanden sie allda nur Trauer und Herzeleid; denn gerade an diesem Tage sollte des Königs einzige Tochter einem Drachen zur Beute werden, der schon seit langem in der Nachbarschaft hauste. Tag für Tag hatte man ihm einen Menschen zur Speise hinausschicken müssen, und wenn man es einmal unterliess, so kam der Drache herein und wütete so arg, dass die Leute froh waren, statt vieler nur ein Opfer zu verlieren. Wen das Los traf, den mussten sie ausliefern; so hatten sie's bei Ehr und Eid ausgemacht. Nun hatte es gerade die Königstochter getroffen, und der König liess noch eilig bekannt machen: »Wer den Drachen töte, der solle die Königstochter zur Frau bekommen und über das Reich regieren.«
Das vernahmen der Riese und der Schneider und hatten nicht übel Lust, ihr Glück zu versuchen. »Du hast die List und er den Leib«, dachte der Schneider, »zusammen mag wohl etwas auszurichten sein.« Also meldeten sie sich bei dem König an und verlangten, um den Drachen zu töten, einen Hammer und eine Zange. Damit machten sie sich zusammen auf den Weg nach dem Drachennest. Als sie da angekommen waren, hielten sie Kriegsrat und kamen überein, dass der Schneider vorne bei dem Eingange bereit stehen sollte, um den Drachen mit der Zange zu packen; der Riese aber sollte von oben mit dem Hammer das Ungetüm aus dem Nest jagen. Gesagt, getan. Aber als der Drache unter den Schlägen des Hammers aus dem Nest fuhr, schnappte er den Schneider samt seiner Zange im Fluge weg und verschluckte ihn. Indessen war der Riese gleich hinter ihm drein und schlug dem Untier den Hornschädel ein, dass es niederlag und verendete. Hierauf schnitt er ihm den Leib auf und liess den Schneider herausschlüpfen. Aber die Königstochter samt dem Reich wollte er nun für sich allein haben und schimpfte noch überdies weidlich auf den Schneider, dass er ihm bei einem Haar die Sache verdorben hätte. »Was?« rief der Schneider, »Du Prahlhans! Hättest du mich nur machen lassen; mit Fleiss bin ich dem garstigen Kerl in den offenen Rachen geschlüpft; denn von innen heraus wollte ich ihn umwenden, wie man einen Handschuh umwendet.«
Also konnte der Riese es nicht verhindern, dass der Schneider auch seinen Anteil an der Erlegung des Drachen haben wollte, und sie kamen beide miteinander zum König. Der König war jedoch in Verlegenheit, welchem von ihnen er nun seine Tochter samt dem Reich geben sollte. Da sagte der Schneider zum Riesen: »Was meinst du? Wer von uns zweien mehr Reispappen essen kann, der soll der Glückliche sein.« Da war der Riese höchlich zufrieden, denn er ass nichts lieber als Reispappen; und auf Befehl des Königs stand bald vor ihnen der Reispappen, wie ein Berg so hoch. Nun begann das Wettessen. Der Riese ass und ass, und der Schneider hielt tapfer Schritt; denn er hatte unter seinem Wams einen Sack angehängt, in den liess er allen Reispappen heimlich hinunterfallen und tat nur zum Schein, als ob er mitesse. Da er nun nie aufhören wollte zu essen, der Riese aber endlich zum Zerspringen voll war, gab der Riese sich für besiegt und musste dem Schneider die Königstochter und das Reich abtreten. Das konnte er indessen leichter verschmerzen, als dass er im Essen besiegt worden war. Deshalb bat er den Schneider zuletzt noch, er möchte ihm sagen, wie er es angestellt habe, um so viel Reispappen zu bewältigen. »Guck«, sagte der Schneider, »die Sache ist sehr einfach; da hab ich mir halt den gefüllten Bauch heimlich aufgeschlitzt und dem Übermass seinen Pass gegeben.«
Das schrieb sich der Riese hinter die Ohren, und aus lauter Neugierde machte er sogleich die Probe, und das war das letzte Mal in seinem Leben, dass er Reispappen ass.
Quelle: Sutermeister, Otto: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz, Aarau:1869
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch