a) Südwestlich von der Stadt Luzern, nach Unterwalden hinein, erhebt der Pilatusberg, voll wilder Schönheit, vielzackig und zerklüftet wie er ist, bis 6700 Zoll ( = 2119 m) empor seine höchste Zinne, welcher nach Osten und Westen hin andere zur Seite stehen, fast jede eigentümlich in Form und Sage. Je von einer Seite gesehen, gestalten sich für die Fantasie die Kontouren dieses Berges leicht zu irgendeinem menschlichen Haupt oder Antlitz aus. Für solche Naturspiele hatten schon die Alten ein offenes Auge.
Von Hergiswil, am freundlichen Gestade des Vierwaldstättersees, führt neben dem Brunni vorbei durch Wiesen-, Hochwald-, und Alpen-Region ein neugebahnter Weg auf Kalksteingeröll über Risinen und Runsen an die nackten Felsenwände heran, die einem mit Absturz zu drohen scheinen.
Da siehst du oberhalb von dir zur Linken denTellenpfad und gelangst endlich nach etwa dreistündigem Steigen hinauf, wo am Klimsenhorn seit 1858 Kapelle und Gasthof für Seele und Leib Erquickung gewähren. Und weiter führt, den Felsen abgetrotzt, ein Pfad über schauerlich-schöne Stellen dich den Grat hinauf zum Chriesiloch, eigentlich Kriechloch, am „Oberhaupt" vorbei zur höchsten Spitze, die vermutlich es sich hat müssen gefallen lassen, dass ihr eigentlicher und bedeutsamer Name Esel in eine weichere zwar, aber sinnlos abweichende Form gebracht worden ist. Da droben spielt jetzt freudig bei gutem Wetter die eidgenössische Flagge mit dem nie ruhenden Winde. Diese obersten Reviere des Bergstockes hat man einst als Tummelplatz böser, gespenstiger Wesen angesehen.
N. Cysat, der über die Fabel vom Pilatussee seinen Spott ausgoss, glaubte gleichwohl, dass dieses Gebirge rau und wild sei, mit bösem tüflischem Gespenst- und Geisterwerk gut besetzt und erfüllt. Nicht selten, erzählt er weiter, stürmen die Ungeheuer nachts vom Tal herauf über alle Höhen und Gipfel mit grausamem Geschrei wie eine Windsbraut oder wie viele Geschwader Reiter und Reisige daher, so dass das Erdreich weit und breit dröhnt und erbebt. Die Leute aber dünktes dann als würden sie samt Scheunen, Gaden, allen Gebäuden und dem Vieh weggetragen. Er selbst habe anno 1565 solches erlebt.
Dennoch haftet die eigentliche Pilatussage nicht hier oben an den höchsten Höhen des Berges. Schaue gegen Mitternacht über die schroffen Wände, Schründe und Steinfelder hinunter ins stille, anmutige Eigental, das seine grünen Weiden sonnig um seine Marienkapelle herum auseinanderfaltet. Bist du etwa über die halbzerstörte Chastelen, wo jener Zwerg dem reichen, geizigen Vetter es gründlich verleidet hat, gegen arme Notleidende herzlos und kalt zu spotten, hinuntergelangt in jenes Tal, das der Rümlig nicht immer so harmlos durchmisst, so weiss dort jeder Älpler dir den Weg in die Bründlenalp zu schildern. In südwestlicher Richtung windet er sich auf einem Rasen voll würziger Kräuter, denen der verpönte Eisenhut gerne Gesellschaft leistet, höher und höher, beim Kaltwehbrunnen, wenn du willst, vorbei und setzt über den jungen Rümligbach hinüber. Wüsste manch einer, ob etwa hier jener Quecksilberborn verborgen liege, den Schmid Dub von Luzern zwar entdeckt, aber die Kunde davon aus Gram über erlittene Engherzigkeit, wie man so sagt, ins Grab als Geheimnis mitgenommen hat, wie eifrig würde Meister Sepp Gernreich sich tagelangem, mühseligem Suchen unterziehen und überdies noch einen guten Teil der Nacht mit Kopfbrechen sich abgeben. Nach einem Steigen von etwa 1 - 1 1/2 Stunden über Eigental hinauf gekommen, hat mein Freund die von Felstrümmern übersäte Bründlenalp erreicht. In der Sennhütte erquickt die frische Alpenkost. Da starren nach der Sonnseite hin die Felsenwände steil empor, zumal dort die beinahe senkrechte Fluh, auf welcher das Widderfeld sich lagert und an deren Vorderfläche das Dominiloch sich öffnet. Steigest du von der Bründlenalp gegen Sonnenaufgang über Wasserrunsen und Schafweiden, so stehst du nach 1 1/2 Stunden am felsigen Gemsmätteli. Allein gegen Niedergang der Sonne erst bergwärts, dann durch Wald und Bergmoor, und - wir sind in der Oberalp, unserm Ziele, nämlich an der sagenberufensten Stätte des Gebirges, wo früher im dunkeln Tannengehölz, von Felsen dort, und hier von einem natürlichen Erdwalle überragt, der finstere Pilatussee, die Hölle des gottesmörderlichen Richters, als sumpfige, mit Rohr umwachsene und eingezäunte Lache dalag. Abgegraben, bringt er es jetzt bei der Schneeschmelze nur kümmerlich noch zu einer Pfütze.
Zwischen Widderfeld und Tomlishorn in der Tiefe liegt die Tommlialp. Südlich vom Widderfeld grünt die Birchbodenalp in der Nachbarschaft der Musflue. Auf dem Mittagsgüpfi ist jener Gnepfstein, der in der Sage, zumal für die Bestimmung ihres Alters, eine nicht unbedeutende Stellung hat.
Wenn vor zweitausend Jahren und früher noch der Kelte drüben auf den lichten, frohmütigen Höhen des Lindenbergs oder an den schönen Berghalden am Sempachersee seine Blicke schweifen liess, so hatte er immer und immer wieder den majestätischen Pilatus vor sich. Nun weiss man auch, wie jenes Volk, dessen Herkunft aus Asien niemand mehr bestreitet, dem Berg- und Höhenkultus ergeben war und in welchem Zusammenhang dieser mit dem Sonnendienste hing. Man müsste es daher beinah' als Ausnahme von der Regel bezeichnen, wenn die ersten Bewohner unseres Landes, wenn die Nachbarn des Berges ihm nicht ihre Verehrung gezollt und der Wunder sie nicht gestochen hätte zu sehen, was denn da oben vorhanden sei. Vermutlich hat der Gnepfstein solchen Besuchen von Kelten seine Errichtung zu verdanken, denn nach der Beschreibung, die Capeller von ihm gegeben hat, erinnert er ganz an jene Art keltischer Steinsetzungen, die man Schwungsteine nennt, weil kolossale, schwere Steine so auf ihre spitze Unterlage gestellt sind, dass sie mit leichter Mühe in schaukelnde Bewegung gesetzt und tönend gemacht, aber nur unter vereinter Anstrengung vieler aus ihrer Lage gebracht werden können. Doch lauschen wir dem altväterischen, heimeligen Sagenmund, dem bis jetzt als ältesten bekannten Zeugen von der ursprünglichen Pilatussage aus unserer eigenen Gegend. Wir hören eine vierhundertjährige Stimme.
Was man ehedem in Luzern von Pilatus wusste
Nachdem der Verruchte (Pontius Pilatus, ehemals römischer Statthalter in Judäa) im Gefängnis zu Vienne in Frankreich sich selbst entleibt hatte, wurde seine Leiche und sein unseliger Geist in diesen Berg, welchen man damals für die gräuslichste Wildnis und Wüste in Europa hielt, zu ewigem Leiden hingebannt. Auf einer Bergspitze, die man das Mittagsgüpfi nennt und gegen Entlebuch hin sich erhebt, da thronte der gottverlassene Sünder. Thronte wie ein Beherrscher des Reviers weitumhin und hatte die Macht, von der Kanzel, einem Felsenvorsprung aus, furchtbare Gewitter zu erregen. Als grauenhaftes Gespenst schreckte er auf dem Berge hin und her Menschen und Tiere. Endlich kam ein fahrender Schüler, der es unternahm, den bösen Geist zu beschwören und den vielgeplagten Leuten Erleichterung zu verschaffen. Er bestieg das Güpfi, wo der Unhold, wie von einer Warte herab, die Gegend durchspähte und begann allda wider das Gespenst seine Exzorzismen. Es war eine heisse Arbeit, der Felsen sogar wurde unter seinen Füssen schwankend und ist es geblieben bis auf den heutigen Tag. Das ist der Gnepfstein. Da nahm er einen festen Standpunkt ein und zwar auf dem Widderfeld, über dem Dominiloch. Was es da gegolten habe, das kann man ahnen, wenn man sieht, wie für ewige Zeiten die Rasendecke da, wo er stand, in einer viereckigen Fläche versengt ist und der nackte Fels zu Tage tritt, während ausserhalb dieser Stelle das Gras noch wächst. Endlich gelang dem Zauberer die Beschwörung und der Geist ging einen Pakt mit ihm ein. Er sollte fortan nur noch im See seine Behausung haben, wo ihm aber geflissentlich niemand die Ruhe stören dürfe. Zur Wasserfahrt gab ihm der Schüler einen Dämon in Rossgestalt mit. Das Tier schlug unweit vom See seine halbmondförmigen Hufe so stark in den Felsen ein, dass man jetzt noch die Spuren davon zeigen kann. Einmal nur im Iahreslaufe durfte Pilatus aus der Tiefe steigen und auf der Mitte des Sees weilen. Das geschieht am Karfreitag, da der Gottesmord vollbracht wurde. Dann, wann in der Kirche die Passion gesungen wird, sitzt er in Amtstracht auf seinem Richterstuhle da, Haar und Bart stiessen eisgrau von Haupt und Antlitz herab. Mit Leuten, die frech und vorwitzig genug zu dieser Stunde an den See gekommen, soll er geredet und ihnen schädliche, gefährliche Dinge anempfohlen haben. Doch wer ihn sah, überlebte selbes Jahr nicht mehr. In einer andern, kleinern, nahegelegenen Lache hatte Pilati Frau ihre Wohnung. Der verbannte Geist verhielt sich ruhig, wenn er nicht mutwilliger Weise gereizt wurde, sei es durch Zuruf oder Hineinwerfen von Gegenständen in den See. Geschah aber solches, oder rief man etwa:
„Pilat wirf us din Kath“
nun, da brauste er auf mit aller Macht und rächte sich mit Sturm, Unwetter und Ueberschwemmung.
b) Vom Domini
In der Fluhwand unter dem Widderfeld, wo der fahrende Schüler den Pilatus zu bannen vermochte, über der Frostaffel, tieft sich eine Höhle aus, deren Eingang, wie es dem entfernten Auge vorkam, ein seltsames Steinbild hütete, „Domini", oder „unser Cornel" genannt. Es ist, als ob ein Mann mit gekreuzten Beinen, die Arme auf einen Tisch lehnend, dastehe, von Zaubermacht wie versteint.
Die nähere, 1814 ausgeführte Untersuchung hat weder von einer künstlichen Statue, noch von einer tiefen Schatzhöhle etwas entdecken können. Verschiedene Sagen und Deutungen schliessen sich an dieses Naturspiel an. Man vernimmt:
a) Römische Soldaten, welche desertiert und sich hierher geflüchtet hätten, seien die Bildner dieses Steins gewesen. Das war wohl mehr gelehrte Vermutung als Volkssage.
b) In der Höhle ist ein unermesslicher Schatz von Gold und Silber. Domini, wegen seinen Verbrechen verwünscht und versteinert, muss ihn so lange hüten, bis jemand die rechte Beschwörung findet, die ihn zur Herausgabe zwingt.
Quelle: Alois Lütolf, Sagen, Bräuche, Legenden aus den fünf Orten Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug, Luzern 1865. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch.