Ein Jüngling sass in einem Nachen auf einem breiten, reissenden Strom und ruderte nach dem jenseitigen Ufer, denn dort stand seine Braut und wartete auf ihn. Als er in die Mitte des Stromes kam, vernahm er einen jämmerlichen Hilferuf; und als er hinblickte, da war es ein altes Weib, das war verunglückt und kämpfte mit den Wellen, die es ins nasse Grab hinunterschlingen wollten. Er kehrte sich aber nicht daran, sondern warf nur einen flüchtigen Blick hin und eilte, hinüber zu kommen. Die Stimme klang immer flehentlicher, aber schwächer und schwächer. Die Alte schwamm vorüber, hinab, und ihr Rufen verstummte.
Doch plötzlich, wenige Klafter von dem Fahrzeug entfernt, tauchte sie leicht wie ein Nebelgebilde wieder aus den Wellen empor, und war kein altes Weib mehr, sondern die schönste aller Jungfrauen, noch weit schöner als seine Geliebte, die auf ihn wartete und ihm winkte. Da ergriff ihn eine unwiderstehliche Sehnsucht und entzückte ihm seine Sinne dergestalt, dass er der harrenden Geliebten vergass und hinab fuhr, der Unbekannten nach, die immerfort in der gleichen Entfernung vor seinen Augen spielend wie ein Schwan dahin schwamm und nicht auf seinen Zuruf hörte, sondern nur von Zeit zu Zeit ihr bezauberndes Antlitz nach ihm umwandte. Der Jüngling fuhr Tage, Wochen und Jahre stromabwärts, aber die Jungfrau vermochte er nie zu erreichen, und so fährt er noch immer zu, bis in die Ewigkeit hinein.
Quelle: Otto Sutermeister, Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz, Aarau 1869, S. 34 Zürich. (Schrift- - liche Mittheilung von I. Senn.)
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.