Im Dunkel des Fichten- und Föhrenwaldes auf dem Rücken des sogenannten Spitzbiel-Hügels bei Goler liegt ein uraltes, zerfallenes Gemäuer. Diese weitläufige Hofstatt, die noch die Grundrisse mehrerer Gelasse erkennen lässt, trug einst die Mauern eines kleinen Schlösschens. Die Tradition nennt als letzte Bewohnerin dieses Waldschlösschens eine Anna Maria Roten, Tochter des Bannerherrn und Ritters Hans Roten und seiner Frau Maria Jakobea auf der Fluo.
Folgendes weiss der Volksmund über sie zu erzählen: In der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts starb zu Raron infolge des damals herrschenden Schwarzen Todes das Geschlecht der Roten aus, und nur eine einzige jugendliche Erbtochter blieb am Leben. Diese zog sich auf den Rat ihres Vormundes in das einsame Waldhaus zurück und wartete dort das Verschwinden der Seuche ab. An bestimmten Tagen, wenn der reitende Landbote unten am Fusse des Berges auf der damaligen Landstrasse das Hornsignal gab, sandte das Fräulein seine einzige Dienerin hinunter um Meldung und Briefschaften abzugeben oder
solche in Empfang zu nehmen. Um die Ansteckungsgefahr zu mindern, sollen die Sendungen vor der Entgegennahme in einem Topf voll Essig, der an der Strasse auf einer Felsplatte stets bereitstand, getaucht worden sein, und aus gleichem Grund habe das Schlösschen mehrere Ziegen und Böcke beherbergt. Der beissende Gestank der Böcke und der harzige Geruch des Waldes verfehlten der Sage gemäss ihre Wirkung nicht und bewahrten das Fräulein und die Dienerin vor der Krankheit. Als endlich nach Monaten der Schwarze Tod aus dem Lande verschwunden war, sah sich die einzige Erbin als Herrin eines grossen Reichtums. Jetzt fehlte ihr nur ein leiblicher Erbe für ihren Reichtum und ihren Namen.
Da erinnerte sich die Erbin, dass sie als Kind von ihren Eltern gehört habe, ein Vetter ihres Vaters sei nach Deutschland an eine Hochschule gewandert und sei nachmals am Hofe des Kurfürsten von Sachsen und Königs von Polen mit einem Ehrenamt bekleidet worden. Darum wurde ein beglaubigter Bote an den fernen Verwandten nach Sachsen gesandt, um ihm die Hand und den Reichtum der Erbin anzubieten, sofern er willens sei, Stammhalter zu werden. Nach Jahr und Tag langte denn auch der Ersehnte, vom Kurfürsten in Huld und Ehren entlassen, glücklich in seiner Heimat an, und die Hochzeit wurde mit Pomp gefeiert.
Von diesem Ehepaar, dessen Porträte noch vorhanden sind, stammt die ältere Linie der Roten ab. Witwer geworden, nahm Hans Christian Roten eine zweite Ehefrau aus dem nunmehr erloschenen Sittener Geschlechte Udret und wurde, bereits betagt, Stammvater der jüngern Linie.
RARON
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch