Einst fiel in den Kipfen zwischen Kalpetran und St. Niklaus ein Mann in die Vispe und wurde von den schäumenden Wellen fortgetragen. Das sah ein am Ufer arbeitender Holzhacker, sprang nach, packte und zog ihn mit seinem Eisenhaken wieder ans Land - freilich etwas unvorsichtig, denn der angesetzte Haken riss dem Geretteten ein Auge aus. Darüber beschwerte sich dieser bei der Obrigkeit und belangte seinen Retter um Schadenersatz für das ausgerissene Auge.
Das war nun eine ziemlich verfängliche Rechtsfrage bei der man einerseits das Recht, anderseits aber die Billigkeit nicht recht vereinbaren konnte. Mit ganz verzogenen Mienen und sehr verstörten Gesichtern nahmen die Rechtsgelehrten Ort und Stelle in Augenschein. Ein zufällig anwesender Ziegenhirt bemerkte die Verlegenheit der wohlweisen Herren und, nachdem er sich über den Handel erkundigt hatte, sprach er lächelnd, da wisse er schon Bescheid: Der Kläger solle sich an der gleichen Stelle wieder ins Wasser werfen und weitertragen lassen; rette er sich ohne Hilfe des Holzhackers, so müsse ihm dieser das Auge bezahlen; wenn nicht, so sei es wohl gleich, ob er mit einem oder zwei Augen sterbe.
Welch ein glücklicher Einfall! Die Richter atmeten wieder freier. Zum Andenken an den merkwürdigen Rechtsfall wurde Kipfen zum Meiertum erhoben und der Hirtenbube seiner Weisheit wegen daselbst als erster Meier eingesetzt.
ST.NIKLAUS
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.