Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts soll in Törbel ein Mann namens Tilger gewohnt haben. Er lebte allein unterhalb des Dorfes in den Steckenkehren. Damals wütete auch in Törbel die Pest. Niemand war mehr imstande, die Toten nach Stalden auf den Friedhof zu führen. Da anerbot er sich, diese Arbeit zu übernehmen. Die Gemeinde verschaffte ihm dazu ein altes Maultier; und darauf lud er in Robkörben die Toten. In einem Stadel nahm er ihnen dann noch die Leinentücher weg, worin sie eingewickelt waren, und am Schlusse der Pestzeit hatte er davon eine Beige bis an den First.
Diese Beschäftigung verhärtete das Herz des ohnehin harten Mannes derart, dass er zum Raubmörder wurde. Er soll sogar mit dem Bösen ein Bündnis geschlossen haben. Der gab ihm ein scharfes Messer. Trug er das bei sich, war er unüberwindbar.
Die Grundmauern seines Wohnhauses in den Steckenkehren sind noch zu sehen. Dort spannte Tilger in der Nacht einen Draht über den Weg, und dieser zeigte mit einem Glöcklein die Passanten an. Der Räuber überfiel sie, tötete sie und raubte ihnen, was sie bei sich führten. Den Leuten fiel das auf, aber sie fanden keine Beweise gegen Tilger. Der Räuber merkte aber wohl, dass man ihn verdächtigte und siedelte nun nach Hohstetten um, zwischen Törbel und Zeneggen. Dort hörte man von ihm eine Zeitlang nichts mehr.
Ein gewisser Christian Schaller von Törbel kam einst in der Nacht aus Bürchen zurück und durchschritt in der Nacht den düstern Wald oberhalb Zeneggen. Unvermutet begegnete ihm dort Tilger, der zufällig sein Götti war.
Schaller fürchtete ernstlich, sein Götti werde ihn umbringen, darum weigerte er sich hartnäckig, im Wege vorauszugehen. Aber auch Tilger wollte nicht der erste sein. So schlug Schaller vor: «Guot Frind ferggunt unand!» Und er gab ihm die Hand. Diese drückte er so sehr, dass dem Räuber das Blut unter den Fingernägeln hervorspritzte. Glücklich war er diesmal dem Tode entwichen, denn Tilger hatte das gefürchtete Messer nicht bei sich.
Beim Bielti in der Nähe von Neubrück beging Tilger kurz darauf eine andere Greueltat: Er brachte dort eine ganze Familie um, ausgenommen ein Mädchen. Das stellte er so an: In der Nacht schlich er sich in den Stall und brachte dort eine Ziege zum Schreien. Wie nun eines nach dem andern im Stall nachschauen wollte, tötete er sie alle bis ans Mädchen. Das nahm er heim und liess es für sich kochen und die Hausarbeiten besorgen. Es durfte aber das Haus kaum verlassen, und nie ohne seine ausdrückliche Erlaubnis. Nur tagsüber konnte es sich mit ihm vor der Hütte sonnen.
Einst war ein hohes Kirchenfest, und das Mädchen bettelte ohne Unterlass, er möge es doch einmal zur Kirche gehen lassen. Nach langem Bitten gab er nach. Es musste aber schwören, keinem einzigen Menschen etwas zu sagen.
Nach der Messe ging aber das Mädchen keck in den Gemeindesaal, wo die Bürger waren. Dort erzählte es alles, was es wusste, dem Ofen in der Ecke: «Dir Ofen sage ich es, um diese und diese Zeit schläft er, dann wäre es ihm einer allein!» Die Bürger hörten das, fingen den Tilger ein und übergaben ihn der Gerichtsbehörde.
Heute kennen wir noch das Tilgerhaus und den Tilgerstein, und wenn einer nicht sofort Glauben findet, sagt er oft: «Wenn du es mir nicht glaubst, sage ich es dem Ofen!»
TÖRBEL
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch