Eine halbe Stunde oberhalb Visperterminen steht in der Einsamkeit des Waldes eine vielbesuchte Wallfahrtskapelle.
Unter den vielen Votivtafeln, die ringsum an der Mauer hangen, fielen früher ein Hufeisen und eine Haarflechte besonders auf. Durch das Erdbeben von 1855 wurde die Waldkapelle stark beschädigt, und in den Trümmern ging auch diese Haarflechte verloren. Die Sage, die sich an das Hufeisen und die Haarflechte knüpft, ist aber noch allgemein bekannt.
Ungefähr fünfzig Minuten oberhalb der Kapelle, wo der Wald zu Ende geht, war vor vielen Jahren in einer Ebene ein stattliches Dorf, in dem ein Hufschmied, Rüspeck mit Namen, seine Schmiede hatte und wacker zuhämmerte. Beim Bau einer Alphütte fand man da noch im letzten Jahrhundert Kohlen und Eisenschlacken.
Eines Morgens kam ein fremder Reiter in vollem Galopp zu seiner Werkstatt und verlangte, er möge eilig sein Pferd beschlagen; er habe Geschäfte im Dorfe, werde gleich wiederkommen, es zur Hand nehmen und bezahlen.
Der Meister und sein Gehilfe machten sich hurtig an die Arbeit und begannen eben munter aufzuschlagen, als sie das Pferd deutlich jammern hörten: «Schlage nicht so hart, du schlägst dein Fleisch und Blut; denn ich bin deine Tochter, die du verwünscht hast und die nun der Teufel reitet. Doch mach geschwind fertig und binde mich los; es ist heute der letzte Tag, an dem mich der Teufel allein lässt und ich ihm vielleicht noch entlaufen kann. Ich werde nur frei, wenn ich, ehe er mich wieder einholt, über neunundneunzig Friedhöfe setzen kann!»
Wie versteinert horchten Vater und Sohn. Sie taten schnell, was ihnen befohlen, und — fort war das Pferd. Der fremde Reiter liess nicht lange auf sich warten. Mit Ungestüm forderte er sein Pferd wieder. Trotzig antwortete Rüspeck: «Du hast mir nur befohlen, das Pferd zu beschlagen, nicht aber, es zu hüten. Ich will meinen Lohn; das übrige geht mich nichts an!» Über diese barsche Antwort stutzig, zahlte der Fremde und rannte in Sturmeseile davon.
Vater und Sohn kehrten zur Familie heim; alle begannen mit Eifer für die Erlösung ihrer unglücklichen Tochter zu beten. Nach drei Tagen kehrte diese befreit ins väterliche Haus zurück und erzählte, wie der Satan sie auf dem letzten Friedhof eingeholt und am Schweif fest ergriffen habe. Mit einem letzten mächtigen Kraftsprunge setzte sie, den Schweif in Satans Händen zurücklassend, hinüber, und – entzaubert und gerettet lag sie auf dem Boden. Voll Zorn warf ihr der Teufel die Hufeisen und die ausgerissene Haarflechte dar. Sie hob diese auf, brachte sie nach langen Tagereisen heim und hängte sie in der Waldkapelle der Muttergottes zur dankbaren Erinnerung auf.
VISPERTERMINEN
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch