Ein Mann von Brigerberg ging einmal spät in der Nacht beim untern Schallberg vorbei. Er hatte am Morgen sein Vieh auf die Weiden seiner Alpe getrieben und kehrte nun etwas verspätet auf dem alten Römerweg nach Hause zurück. Nicht ohne Furcht durchschritt er in tiefer Nacht den finstern Tannenwald. Als er im Grund aus dem Wald heraustrat und in eine Lichtung gelangte, verschwand allmählich die Furcht. Aber es sollte noch anders werden.
Wie er im untern Schallberg anlangte, sah er in einem Hause obenan die Fenster hell erleuchtet. Sinnberückende Melodien einer wilden Tanzmusik drangen an sein Ohr, und deutlich vernahm er das taktweise Aufschlagen vieler Füsse eines tanzenden Volkes. «Wer ist so verwegen, hier an einem abgelegenen Orte in so später Stunde einen Tanz abzuhalten?» dachte er bei sich selbst. «Es werden junge Leute sein, die sich den Augen der Obrigkeit entziehen wollen.» Eintreten wollte er nicht. Er stieg aber auf einen ganz in der Nähe stehenden Holunderstrauch; von dort aus konnte er durch die hell erleuchteten Fenster die Gesellschaft übersehen. Doch sonderbar, als er oben auf dem Strauche stand, verstummte die Tanzmusik, die Lichter waren ausgelöscht, ringsum herrschte das geisterhafte Dunkel und die unheimliche Stille der Nacht. Nichts war vernehmbar als das Rauschen der Saltina unten im wilden Gantertobel. Leises Zittern befiel ihn, und er liess sich auf den Boden nieder.
Kaum hatte er seinen Fuss wieder auf die Erde gesetzt, begann der Tanz in hell beleuchteter Stube von neuem. Nochmals stieg er auf den Strauch, und es wiederholte sich dieselbe Erscheinung; wieder stierte er in die leere, finstere Stube hinein. Etwas ärgerlich stieg er zum zweiten Male vom Holunderstrauch herab und verliess den unheimlichen Ort. Kaum hatte er sich einige Schritte entfernt, begann der Tanz zum dritten Male. Wild rasten die Hämmerchen über die Saiten des Hackbrettes, schaudervoll klang das Gestampfe und Poltern, und geradezu unheimlich gellte das Jauchzen und Johlen der übermütigen Tänzer und Tänzerinnen in die stockfinstere Nacht hinaus. Ohne jemals rückwärts zu schauen, setzte der Wanderer seinen Weg fort, in Gedanken immer wieder nachsinnend, ob dort eine wirkliche Tanzgesellschaft junger Leute versammelt gewesen sei oder ob Geister einen Tanz aufgeführt hätten.
Bei der Kinbrücke setzte er sich nieder. Er wollte Gewissheit haben und dort das Tänzervolk abwarten. Stunde um Stunde verrann. Um die Zeit, da gewöhnlich frühmorgens die Betglocke geläutet wurde, hörte er von der Alpe Asche herauf den Zug der Tänzer und Tänzerinnen herannahen. Immer näher klang die Tanzmusik, immer greller wiederhallten die Jauchzer der Tänzer und Tänzerinnen in der gegenüberliegenden Alpe Getjen. Schon war der Zug nahe am Kin. Er glaubte, aus den Zügen noch lebender Jünglinge und Töchter die Züge der Ahnen zu erkennen. Ganz sicher erkannte er aber keinen. Eben wollte er aufstehen und sich dem Zuge anschliessen – da fuhr auf einmal die ganze Gesellschaft wie eine feurige Bissagga das Kin hinunter in die Saltina.
Ein Schauder durchrieselte die Glieder des einsamen Wanderers. Es wurde ihm klar: Er hatte ein Tanzvolk gesehen, das für verborgen abgehaltene Tänze büssen musste.
RIED-BRIG
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch