Östlich von Naters liegt an der alten Furkastrasse das Fleckchen Weingarten. Dieser Ort ist in der Walliser Geschichte nicht unbekannt, weil da Landsgemeinden und Ratsversammlungen abgehalten wurden; auch war er der Stammsitz der angesehenen Familie Vineis oder Weingartner. Dort lebte einstmals ein gewisser Niggi Eggel mit seiner Familie. Diesem träumte drei Nächte nacheinander, in Uri auf der Brücke werde er sein Glück finden. Unser Niggi Eggel lachte über den Traum, doch erzählte er ihn seiner Gattin. Diese hatte mehr Vertrauen und riet ihrem Manne, nach Einsiedeln eine Wallfahrt zu machen: Er werde da Gelegenheit haben, die Brücke in Uri zu sehen, und wenn er auch auf der Brücke sein Glück nicht finden werde, sei die Reise nicht umsonst gewesen, weil er immerhin eine Wallfahrt gemacht habe.
Der Mann folgte und ging nach Einsiedeln, ohne bei der bezeichneten Brücke etwas Ausserordentliches zu treffen. Auf der Heimreise fand er die Brücke wieder leer wie bei der Hinreise; doch hielt er jetzt etwas missgestimmt still und begann, sie der Länge und Breite nach näher anzuschauen. Da kam ein Mann zu ihm und fragte, ob er etwas verloren habe und suche. «Nein», antwortete unser Niggi, «es hat mir was Dummes von dieser Brücke geträumt, woran ich zwar nicht glaube, doch kann ich bei dieser Gelegenheit nicht unterlassen, hier nach der Erfüllung des Traumes mich umzusehen.» Der Unbekannte lachte und sagte er solle sich doch um Träume nicht kümmern, auch ihm habe geträumt, zu Weingarten in einem alten Häuschen sei im Keller neben der Stutt ein Hafen voll Geld begraben. Er wisse nun nicht, wo in der Welt dieses Weingarten und dieses Häuschen sei, bewege aber darum keinen Fuss, er kehre sich an solche Träume nicht.
Unser Niggi Eggel wurde nachdenkend, verabschiedete sich scheinbar gleichgültig vom Fremden, und zu Hause angekommen, fand er schon am ersten Abend im Keller bei der Stutt unter einer Steinplatte den verborgenen Schatz. Er hob das Geld in aller Stille und sprach davon keiner lebenden Seele auch nur ein Sterbenswörtchen. Der glückliche Finder wandte das Geld gut an. Erst riss er sein altes, schadhaftes Häuschen nieder und führte ein neues auf. Dann erweiterte er seine Liegenschaften durch Ankäufe, und jedermann merkte, dass der arme Niggi ein wohlhabender Mann geworden war.
Das plötzliche Reichwerden des Mannes erschien aber der Obrigkeit etwas verdächtig. Niggi wurde eingezogen und der Hexenkünste oder des Diebstahls beschuldigt. Natürlich konnte der Angeklagte diese Verbrechen nicht eingestehen. Er erzählte nun freilich, wie er zum Vermögen gekommen sei; allein die Richter glaubten ihm nicht. Sie spannten ihn darum auf die Folter, um mit aller Gewalt das Geständnis seiner Verbrechen zu erzwingen. Während nun der Angeklagte in gemessenen Zeiträumen laut damaligem Gesetze gefoltert wurde, machte die Geschichte vom sonderbaren Traum und vom gefundenen Schatz weit und breit im Lande die Runde. Sie wurde auch in Uri bekannt und kam glücklicherweise auch zu den Ohren des Unbekannten, der dem Niggi auf der Brücke von Uri seinen Traum vom Schatze im Keller erzählt hatte. Dieser hatte nun nichts Eiligeres zu tun, als ins Wallis zu reisen und der Unschuld Zeugnis zu geben. Er hatte hohe Zeit, denn er traf den Mann eben halbverschmachtet auf der Folter an. Gleich wurde Niggi losgelassen und vom Gerichte freigesprochen. Leider half das dem Niggi wenig mehr. Er wurde verrenkt und verstümmelt in einer Handwanne nach Hause getragen, wo er nach drei Tagen starb.
NATERS
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch