In alten Zeiten herrschten über das Volk von Naters ausländische und gewalttätige Tyrannen. Die Natischer mussten ihnen Tribut zahlen. Daneben trieben die Herrscher noch unterirdische Gänge in die Keller und stahlen dort die besten Käse und Hammen weg. Am meisten erbitterte die Untertanen aber der Befehl, dass jede neuvermählte Braut für drei Tage dem Tyrannen überlassen werden musste. Das
brachte die jungen Leute zur Verzweiflung. Sie berieten, dieses unwürdige Joch abzuschütteln.
Zwölf kühne Jünglinge versprachen ihre Hand an ebenso viele Jungfrauen und verschworen sich, ihre Hochzeit über dem Leichnam ihres verhassten Herrn zu feiern. Das Los bezeichnete das Brautpaar, welches den ersten Schlag ausführen sollte. Als der bestimmte Tag angebrochen und ihre Ehe in der Kirche geschlossen war, begaben sie sich in Festkleidern und in Begleitung ihrer Verwandten und Freunde vor das Schloss des Tyrannen und Wüstlings. Niemand verriet ihren Schwur. Als das erste Paar bei dem Herrn vorgelassen wurde, wollte dieser die Braut in seine Arme schliessen, fiel aber von einem wuchtigen Schlage tödlich getroffen, zusammen. Gleichzeitig pflanzten die draussen Gebliebenen Spiesse auf ihre Stöcke, bezwangen das Schloss, töteten oder überwältigten die Knechte und Gehilfen des Bösewichts, soweit sie nicht durch schleunige Flucht entrinnen konnten.
Jubilierend über die gelungene Rache feierten nun die Brautpaare ihre Hochzeit; doch ihr Jubel dauerte nur kurze Zeit. Die Kastlane der benachbarten Burgen wurden über die Vorfälle im Schloss Urnavas unterrichtet, und sie fielen nun mit vereinten Kräften auf das Dorf Naters. Aber schon hatten sich die Rächer mit ihren Bräuten und Freunden, mit ihren Herden und ihrer Habe über die Berge nach Italien geflüchtet und fanden am Berggehänge von Ornavasso ein vor der Wut ihrer Verfolger sicheres und geschütztes Heim. In Capaleccio siedelten sie sich an und legten den Grund zur jetzigen Bürgschaft Ornavasso.
Die alten Walliser behielten aber auch in den italienischen Gefilden ihre Heimat lieb; bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein wallfahrteten sie zur Mutter Gottes auf dem Glisacker.
Auch in Naters hat man die einstigen Auswanderer nicht vergessen. Noch 1930, 1950 und 1960 besuchten die beiden Gemeinden einander, wobei abwechslungsweise die Natischer nach Ornavasso, oder die Ornavasser nach Naters reisten.
NATERS
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch