In der Kapelle zu den hohen Flühen war es früher nicht immer geheuer. Ein Eremit, der dort seine Zelle hatte, erzählte von mancher unheimlichen Begebenheit.
Einst hörte er zwischen Tag und Nacht ganz sanft und traurig orgeln. Er schaute nach und erblickte eine Person in einem weissen Kleide auf der Orgel.
Oder es war in der Nacht die Kapelle hell erleuchtet, ohne dass die Kerzen brannten. Es kam vor, dass der Eremit mitten in der Nacht mit tiefer Bassstimme beten hörte, dann wieder ein Weinen, wie von vielen kleinen Kindern. Daneben gab es aber häufig Gesindel, das sich dort nachts aufhielt, oft sogar, um Wanderern aufzulauern. So kam einst ein robuster Mann aus Mörel zu später Stunde da vorbei. Vor der Kapelle stellten sich ihm zwei Räuber in den Weg und schrien ganz unzweideutig: «Geld oder Blut!» Der Mörjer wehrte sich und floh so schnell als möglich. Die verdutzten Räuber folgten ihm, und der schnellere holte ihn schon ein paar Schritte nach der Kapelle ein. Der Mörjer gab ihm aber eine solche Tracht Prügel mit seinen Fäusten, dass der Räuber regelrecht über die Mauer gegen den Rotten hinunterflog.
Wie der Mörjer eine Strecke weiter gegangen war, kam ihm doch in den Sinn, der Räuber hätte ja nach diesem Sturz tot bleiben können. Und couragiert wie er war, schritt er noch einmal zurück und fragte voll Mitleid: «Het s äppis ggmacht! »Wie er sah, dass beide noch lebten, ging er in aller Seelenruhe nach Mörel weiter.
MÖREL
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch