Ein Mann von Ernen hirtete auf Eggen und musste allein in einem Hause übernachten. Eines Abends, als er schon zu Bette war, klopfte es an seiner Türe. Schnell kleidete er sich an, ging hinaus und öffnete in der Meinung, es seien Abendsitzer da. Herein traten zwei Frauen von Ernen, die er sehr wohl kannte, die aber schon mehr als ein Jahr zu den Toten zählten. Eigenartigerweise fiel ihm dieser Umstand gar nicht auf, und er wähnte sich bei Lebenden. Er unterhielt sich mit den Toten die ganze Nacht hindurch aufs Vortrefflichste und am Morgen glaubte er, noch keine Viertelstunde sei er bei diesen gewesen. Auch das Stümpchen Kerze hatte nicht abgenommen, obwohl es die ganze Nacht hindurch gebrannt hatte. Ungefähr zur Betenläutezeit entfernten sich die Gäste und gaben dem Hirten noch einen Stock mit dem Auftrage, ihn heute früh bei dem und dem Hause in Ernen an die Türe zu lehnen. Er versprach es, und die beiden entfernten sich.
Erst jetzt wurde es dem Manne klar, dass er die ganze Nacht bei zwei Toten gesessen war. Ein jäher Schrecken durchfuhr seine Glieder. Schnell besorgte er sein Vieh und rannte dann aus Furcht nach Ernen zurück. Am Abend musste er aber doch wieder nach Eggen zu seinem Vieh, doch übernachten wollte er da nicht mehr. Nach getaner Arbeit trat er dennoch in die Stube, um seine Tabakpfeife, die er in der Aufregung am Morgen vergessen hatte, zu holen. Kaum war er in die Stube getreten, da klopfte es wieder heftig, aber diesmal an der Stubendecke. Wie, sollten jetzt die zwei Toten wiederkommen?! Es klopfte noch einmal stärker und dann zum dritten Male ganz heftig. Jetzt erinnerte er sich, dass der Stock, den er schon heute hätte abgeben sollen, noch da war. Flugs ergriff er diesen, und in einer halben Stunde schon hatte er sein Versäumnis nachgeholt.
Im Hause, wo er den Stock angelehnt hatte, lebte ein Junggeselle, der Bruder der zwei obgenannten Toten. Am Tage darauf schädigte sich dieser sehr schwer und musste von da an immer am Stocke gehen.
ERNEN
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch