In der Gemeinde Geschinen war einst das Gemeindegeld auf unerklärliche Weise abhanden gekommen. Daraufhin wurden drei sonst als ehrliche Männer angesehene Bürger von einer höhergestellten Persönlichkeit von Geschinen selbst angezeigt. Alsogleich wurden die drei Männer verhaftet und nach Ernen in sicheren Gewahrsam gebracht. Sie beteuerten fortwährend ihre Unschuld, doch man schenkte ihnen keinen Glauben. Man spannte sie auf die Folter doch die drei blieben standhaft und legten kein Geständnis ab. Erst am dritten Tage bekannten die Angeschuldigten, durch das Übermass der Folterqualen getrieben, eine Schuld, die sie gar nicht begangen hatten.
Unter den Richtern befand sich auch der Mann, der sie angezeigt hatte und auf seinen Rat hin stimmte man auf sofortigen Tod durch den Strang. Schon am folgenden Tage wurden sie hingerichtet. Als der Henker ihnen unterm Galgen die Stricke umwarf, rief der eine: «Ich sterbe am Galgen, doch ich sterbe ehrlich!» Der Zweite sagte: «Unschuldig bin ich wie die Sonne da droben am Himmelsblau.» Als auch der dritte die Leiter emporstieg, rief er aus: «Die ehrlichen Männer müssen also sterben für den Dieb, der unterm Galgen unsern letzten Atemzug erwartet!»
Alles erschrak ob dieser Aussagen, ohne dass man nur daran dachte, die Hinrichtung aufzuschieben. Als der erste Schrecken vorbei war, stieg nun im Volke ein furchtbarer Verdacht auf: Man hatte sicher drei Unschuldige hingerichtet auf das Drängen des Schuldigen. Unverhohlen gab das versammelte Volk seinem Unwillen Ausdruck gegen den Richter, der die drei angezeigt hatte und bald bezeichnete man ihn allgemein als den Dieb. Stürmisch verlangte das Volk am folgenden Morgen den unehrlichen Richter vor ein strenges Gericht. Doch zu spät. Er war während der Nacht auf und davon und blieb für immer verschollen.
ERNEN
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch