Einige Jahre bevor Obergesteln den Flammen zum Opfer gefallen war (1868), sammelte eines Abends eine ältere Frau etwa fünf Minuten oberhalb Geschinen in der Kalbereyen Holz. Wie sie eine genügende Last zusammengelegt hatte und nach Hause gehen wollte, sah sie den Himmel ringsum flammenrot und von Rauchwolken erfüllt. In Obergesteln aber erschaute sie die Mehrzahl der Häuser und Ställe in hochlodernden Flammen. Dazu hörte sie das Sturmgeläute von Obergesteln und Ulrichen. Sogleich eilte die Frau Geschinen zu, um da ebenfalls Hilfe zu fordern. Im selben Augenblicke hörte sie zwei Männer keuchend an sich vorüberlaufen, und diese riefen aus Leibeskräften: «Zu Hilfe! Feuer! Obrgesteln brennt! Zu Hilfe!» Wie die Frau die Schreckensboten ins Dorf rennen sah, vernahm sie immer noch ihren jammernden Ruf: «Obergesteln brennt!» Jeden Augennblick erwartete sie nun das Sturmgeläute und den Lärm des erschreckten Volkes in Geschinen. Aber alles blieb ruhig und still. Und wie sie zurück in das Feuermeer zu blicken gedachte, lag das Dorf unversehrt da. Das gleiche Schauspiel wiederholte sich den Augen und Ohren eines Obergestler Bürgers, und auch einem von Münster erging es ähnlich.
Zu gleicher Zeit sahen Leute oft eine Prozession in Ulrichen aus dem Oberbach pilgern. An der Spitze des Bittganges schritt laut betend und segnend ein Bischof und trug die Gesichtszüge des hl. Niklaus, der in der Kirche von Ulrichen verehrt wird.
Als dann Obergesteln wirklich in Flammen stand, schleuderte der starke Wind, der stets von der Furka weht, die feurigen Kohlen des brennenden Obergesteln bis auf die dürren Holzdächer von Ulrichen, ohne dass auch nur eine einzige Schindel Feuer fing. Diese Rettung aus grosser Gefahr schrieb das Volk der Hilfe des Himmels zu.
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
OBERGESTELN
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch