Es war einmal ein armer Bursche. Sein Vater besass auch nichts. Der Bursche machte sich auf den Weg in die Fremde. Unterwegs kam er zu einem Häuschen. Davor stand ein alter Mann. Der fragte ihn, wohin er gehe. Er antwortete, er möchte sein tägliches Brot verdienen. Der Mann sagte, wenn er zuverlässig sei, könne er zu ihm kommen. Das wolle er gern, erwiderte der Bursche. Der Alte vertraute ihm das Haus an und sagte, er gehe für ein paar Tage weg. Bevor er ging, legte er einen Schlüssel auf den Tisch der obern Stube, um zu sehen, ob der Bursche zuverlässig sei. Er sagte ihm, er solle schauen, dass er jenen Schlüssel nicht brauche, und reiste weg. Der Bursche machte seine Arbeit, wie es sich gehört, aber am Abend ging er in jene Kammer oben und sah über dem Tisch ein Loch in der Wand. Er schaute sich den Schlüssel an, nahm ihn, steckte ihn in jenes Loch, drehte ihn um, und eine Türe öffnete sich. In jenem Schrank lag ein grosses Buch. Er nahm es heraus und begann darin zu lesen. Da stand drin, wie man sich in jedes beliebige Tier verwandeln konnte.
Als er das gelesen hatte, legte er das Buch wieder hinein, verschloss den Schrank und legte den Schlüssel genauso hin, wie er vorher war. Als der Meister kam, schaute er, ob der Schlüssel noch so sei, wie er ihn hingelegt hatte. Er merkte nichts und dachte, der Bursche sei nicht daran gewesen. Dieser blieb noch ein Jahr beim Alten, aber dann sagte er, er gehe nach Hause, was er auch tat.
Daheim fragte sein Vater, wie es ihm gegangen sei und was er gelernt habe. Der Sohn sagte, er solle nur mit ihm in die Kammer hinaufkommen, dann wolle er es ihm zeigen. Oben verwandelte er sich in ein Pferd und hiess seinen Vater, er solle aufbrechen und mit ihm auf den Markt gehen, aber wenn er ihn verkauft habe, solle er schauen, dass er ihm das Halfter abnehme. Der Vater ging dann mit ihm auf den Markt, aber unterwegs begegneten sie dem alten Mann. Der erkannte gleich im Pferd den Burschen, der bei ihm gewesen war. Der Alte redete auf den Vater des Burschen ein, stimmte ihn um, kaufte das Pferd samt Halfter und allem, nahm es und ging. Vor einer Schmiede hielt er an. Unter der Tür hiess er den Schmied, er solle eine Eisenstange erhitzen. Der tat das. Der Alte nahm die Stange und wollte sie dem Pferd ins Maul stossen. Aber das begann zu reissen und zu reissen und auf einmal zerbrach es das Halfter, und das Pferd verwandelte sich in einen Sperber. Der Vogel flog sogleich über das Schloss hinweg. Davor sass die Königstochter. Er verwandelte sich in einen Ring und fiel hinunter, ihr genau in den Schoss. Sie war ganz verwundert, rannte zu ihrem Vater und sagte:
«Schau, was der Herrgott vom Himmel herabgeschickt hat», und sie steckte den Ring an den Finger.
In der Nacht kam der Bursche hervor und begann mit ihr zu reden und tändelte mit ihr. Nach einer Zeit wurde sie krank und sagte, der, welcher ihr helfen könne, erhalte diesen Ring. Der Alte kam und sagte, er wolle sie wohl heilen, aber zuerst müsse sie ihm den Ring geben. Sie tat so, nahm den Ring vom Finger und liess ihn zu Boden fallen, wie der Bursche es sie geheissen hatte. Kaum war der Ring am Boden, verwandelte er sich in ein Korn und der alte Mann in ein Huhn, welches das Korn aufpicken wollte. Doch der Bursche kam dem Huhn zuvor, er verwandelte sich in einen Sperber und tötete das Huhn, und jetzt war er befreit und heiratete die Königstochter.
(Schams)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.