Die Geschichte von der Laterne

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal eine Witwe. Die hatte einen fünfzehnjährigen Sohn, der hütete die Ziegen. Auf der Suche nach ihnen geriet er zu später Stunde in einen Wald und gelangte zu einer Hütte. Da lebte ein alter Mann. Er trat ein und fragte, ob er nicht hier in der Nähe ein paar Ziegen gesehen oder gehört habe. Nein, er habe nichts gesehen und wisse von nichts, sagte der Alte. Es begann immer stärker zu dunkeln, und der Bursche hätte noch ein rechtes Stück Weg gehabt, um nach Hause zu kommen. Doch der Alte sagte: «Da es so spät ist, bleibst du gleich hier.» Der andere blieb. Am Morgen fragte der Alte, ob er ihm nicht einen Gefallen täte. Wenn er könne, wolle er es gerne tun, antwortete der kleine Geisshirt. Der Alte sagte: «Nun, draussen vor der Hütte ist ein grosses Loch, und meine Laterne ist da hinuntergefallen, ich kann sie nicht heraufholen.» Ah, er wolle das schon machen, erwiderte der Bursche, er solle ihm ein Lederseil geben. Sie gingen dann zum Loch; der Geisshirt band sich das Seil um, und der Alte liess ihn hinunter. Als der Geisshirt unten war, meinte der Alte, er solle vorläufig die Laterne am Seil festbinden, er wolle diese zuerst heraufziehen. Darauf kamen dem Burschen gewisse Zweifel, und er rief hinauf, er solle nur ziehen, er könne ihn samt der Laterne heraufziehen. Aber der Alte wollte dies nicht tun und ging wieder in die Hütte zurück. Der Bursche bereute es, dass er sich in dieses Loch heruntergelassen hatte und begann bitterlich zu weinen. Mit der Zeit hörte er damit auf; er nahm die Laterne und betrachtete sie von allen Seiten. Da bemerkte er, dass ein Glas ein wenig schmutzig war; er benetzte zwei Finger und rieb den Schmutz ab. Gleich darauf erschienen drei Geister und fragten, was er wolle. Er wünschte, er wäre bei seiner Mutter, und kaum hatte er das gesagt, war er wieder bei ihr daheim.

Als der Alte nachschaute, war der Geisshirt fort, mit der Laterne und allem. Der Alte ärgerte sich natürlich und dachte Tag und Nacht darüber nach, wie er die Laterne zurückbekomme. Eines Tages nahm er ein paar neue Laternen, ging ins Dorf und rief aus: «Wer will alte Laternen gegen neue tauschen? » Da eilten viele herbei, denn das war ein guter Tausch. Unter ihnen war auch die Mutter unseres Geisshirten; die kam mit der alten Laterne, um sie einzutauschen. Als der Alte seine Laterne wieder hatte, war er zufrieden, begab sich nach Hause und stellte sie an ihren Ort unter dem Bett.

Abends, als der kleine Geisshirt nach Hause kam und sah, dass die Laterne weg war, raufte er sich die Haare und machte seiner Mutter Vorwürfe, denn sie hätte die Laterne nicht weggeben dürfen. Der Bursche war ganz verzweifelt und hirnte und hirnte, wie er die Laterne wieder bekommen könnte. Er ging in den Wald und kam zur Hütte des Alten. Der war nicht da. Er suchte und suchte nach der Laterne und wollte eben die Stube verlassen. Da warf er noch einen Blick unter das Bett, sah etwas glänzen, und das war die Laterne. Er nahm sie und machte sich auf den Heimweg. Zu Hause ermahnte er seine Mutter, auf die Laterne aufzupassen und sie nicht wegzugeben. Als er älter war, bat er eines Tages seine Mutter, sie solle zum König gehen und ihn um seine Tochter bitten. Die Mutter lachte nur und sagte, was er sich auch denke, er und die Königstochter! Doch der Bursche gab nicht nach. Die Mutter ging zum König, doch der lachte nur und rief, sie solle sich fortscheren. Der Busche erwiderte: «Ah, die Tochter will ich unbedingt, geh du hinauf, Mutter, und sag ihm, wenn er sie nicht freiwillig gibt, so brauch ich Gewalt und erkläre ihm den Krieg.» Der König lachte bloss wieder und meinte, er solle nur kommen. Der Bursche rief seine Geister, indem er am Glas der Laterne rieb, und die kamen und fragten, was er wünsche. Er wolle ein Heer Soldaten, und er möchte der beste General auf dem schönsten Pferd sein. Sein Wunsch ging in Erfüllung. Da belagerte er am gleichen Tag den König. Der hatte keine Soldaten zusammengezogen, keinen einzigen, und er sagte, folglich wolle er ihm die Tochter geben. Darauf zog der Bursche seine Soldaten zurück. Und die Tochter musste ihn heiraten. Sie hielten Hochzeit. In der ersten Nacht liess er ein Schloss gegenüber jenem des Königs errichten und wünschte weiter, dass er und seine Frau dort im Bett lägen. Am Morgen, als der König aufstand und aus dem Fenster blickte, wunderte der sich nicht wenig und fragte sich, wie dieses Schloss über Nacht hierher gekommen sei und wem es gehöre. Jetzt, eines Tages ging der Alte aus dem Wald am neuen Schloss vorbei und sogleich überlegte er sich, wie er die Laterne wieder bekommen könnte. Und auf die eine oder andere Weise bekam er sie wieder und er liess das Schloss wegtragen, und am Morgen lag das Paar splitternackt am Boden und schlief.

Als der König aus dem Fenster blickte, war das Schloss weg, und die andern dort lagen splitternackt auf dem Boden. Er nahm sie dann in sein Haus. Der junge Mann bekam die Laterne dann irgendwie wieder und liess das Schloss nochmals aufstellen, aber viel schöner als zuvor. Der König sah das, rief ihn aufs Schloss und fragte, wie das zu und her gehe. Der andere erklärte ihm dann alles, und der König sagte, er solle jetzt noch einen Haufen Geld kommen lassen, und er wolle dann die Laterne so versorgen, dass sie keiner mehr finde. Sein Schwiegersohn tat das und gab die Laterne dem König. Der befestigte daran einen grossen Stein und liess sie im Meer versenken. Und das junge Paar konnte von da an ungestört in seinem Schloss leben.

(Schams)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.  

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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