Vor Zeiten waren unsere Pfarrer noch nicht so gebildet wie heute; aber sie hatten auch nicht so viel Schulunterricht wie die jetzigen, sonst ... Sie gingen nur ein paar Monate zu einem tüchtigen, alten Pfarrer, um ein wenig lesen, schreiben und allenfalls ein wenig Latein zu lernen. Trotzdem hielten sie vortreffliche Predigten mit Worten, die wie Hämmer auf die Herzen der armen Sünder fielen. (Die Leute gingen zu jener Zeit auch noch zur Predigt.) Und nicht nur das Predigen verstanden sie, sie bauerten auch selbst, mähten, heuten im Sommer und manch eine Predigt dachten sie sich wohl mit der Sense in der Hand aus. Und wenn sie sich zuweilen ein bisschen vergassen, so ist das verzeihlich, man kann wahrhaftig nicht zwei Dinge zugleich tun. So hatte auch jener arme Kerl, der mit dem Wetzsteinfass auf dem Hintern auf die Kanzel stieg, sich vergessen. Es soll ein Mathoner gewesen sein, was sehr wohl möglich ist.
Wie mir erzählt wurde, mähte er eben in Prada draussen eines Samstagabends vor dem Gebet, ohne an das Wetzsteinfass zu denken. Gewiss hatte er schon die Predigt vom nächsten Tag im Kopf. Wie dem auch sei, plötzlich hörte er die Glocke zum Gebet läuten, warf die Sense hin und rannte im Schreck mit dem Wetzsteinfass auf dem Hintern in die Kirche und auf die Kanzel. Ihr könnt ihr euch vorstellen, wie das «klipp klapp» machte zur Kirche herein und auf der Kanzel, wie die Leute kicherten und wie der arme Kerl verlegen war, als er es merkte.
(Schams)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.