Der Geiger und der Schuhmacher

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es waren einmal ein Geiger und ein Schuhmacher, zwei arme Kerle, aber sehr gute Freunde. Der Geiger verdiente wenig mit Spielen und dachte, er wolle in der Ferne sein Glück versuchen. Er verabschiedete sich von seinem Gefährten und ging fort. Eines Tages, als es sehr heiss war, setzte er sich unter einen Obstbaum, um auszuruhen. Da sah er aus einem Maiensäss gegenüber 24 Männer herauskommen. Die stiegen hinunter ins Tal und waren alsbald verschwunden. «Wer weiss, wenn ich nachsähe, was mit dieser Hütte los ist?» sprach er zu sich selbst. Kurz entschlossen ging er hin und gelangte in eine riesige Höhle. Darin fand er haufenweise Geld, Kostbarkeiten und auch Lebensmittel und Getränke. Er nahm so viel Geld, wie er tragen konnte und kehrte zurück. In einem Dorf etwas weiter weg baute er ein schönes Haus und machte eine Wirtschaft auf. Seine Geige hängte er in der Stube an die Wand. Er war jetzt ein reicher Mann und brauchte nicht mehr zum Tanz aufzuspielen.

Sein alter Gefährte, der Schuhmacher, kam rasch darauf, dass der andere plötzlich reich geworden war, und es nahm ihn wunder, wie das zu und her gegangen war. Er warf Hammer und Leisten in eine Ecke: «Es lohnt sich nicht, hier auf dem Stuhl bucklig zu werden, wenn man sein Glück leichter machen kann.» Er nahm den Weg unter die Füsse und ging zum Geiger. Der begrüsste ihn sehr freundlich und zeigte ihm sein schönes Haus von zuoberst bis zuunterst. Auch erzählte er seinem alten Freund, wie er zu Reichtum gekommen war, doch solle er das geheim halten. Der Schuhmacher versprach dies natürlich fest, aber er wollte auch zur Höhle hinauf, um sein Glück zu machen. Der Wirt riet ihm davon ab, weil die Räuber wahrscheinlich bemerkt hätten, dass Geld weggenommen worden sei. Vergebens, der Schuhmacher wollte um jeden Preis hin. «So zähle denn gut, ob es 24 sind, wenn sie aus der Höhle kommen, doch wenn es weniger sind, so geh um Gottes willen nicht hinauf, oder es geht dir schlecht.»

Der Schuhmacher wartete unter dem Obstbaum auf das Glück. Nach einer Weile kamen drüben die Männer aus dem Maiensäss. Er zählte hastig, und vor Aufregung wusste er am Schluss nicht, ob er 24 oder 22 gezählt hatte. Doch umkehren wollte er nicht, die Geldgier war zu gross, und er ging in die Höhle. Kaum war er drin, sprangen zwei schreckliche Räuber aus einer Ecke hervor, packten ihn und brüllten mit fürchterlicher Stimme: «Aha, jetzt haben wir den Schuft, den Dieb!» Unserem armen Schuhmacher hat es die Sprache verschlagen vor Schrecken, und er kann sich eine Weile nicht einmal rühren, doch irgendeinmal stammelt er zitternd: «Nein, nein, ich habe das Geld nicht genommen, der und der war’s.» Die Räuber hatten schon alles gewusst, dachten aber, der Wirt käme selbst nochmals, und sie könnten sich dann rächen.

Den Schuhmacher brachten sie erbarmungslos um. Als die andern zurückkamen, heckten sie dann aus, wie sie den Wirt überlisten und sich an ihm rächen könnten. Nun, sie waren sich rasch einig.

Eines Abends kam recht früh ein sehr vornehmer Herr zum Wirt, wollte über Nacht bleiben und erzählte, er reise herum, um Wein zu verkaufen, sein Diener werde in Kürze mit einer Ladung Fässer da sein. Der Wirt war aber ein schlauer Teufel, er ahnte, dass etwas nicht ganz in Ordnung war und liess die Bauern und Handwerker des Dorfes benachrichtigen, sie sollten augenblicklich zu ihm kommen, und jeder solle ein Werkzeug mitnehmen. Die Männer kamen sogleich mit den Werkzeugen auf den Schultern. Der Fremde wunderte sich und fragte den Wirt, was das zu bedeuten habe. «Ach, das sind unsere Tagelöhner, die zum Essen kommen.» Der Herr beruhigte sich. Unterdessen hielt vor dem Haus ein fremder Fuhrmann mit einer grossen Ladung riesiger Fässer. In dem Augenblick gab der Wirt den Männern ein Zeichen. Die stürzten sich auf den Herrn und den Fuhrmann und hielten sie fest. Dann öffneten sie ein Fass nach dem andern und fanden in jedem einen Räuber. Sie nahmen alle fest und übergaben sie dann dem Gericht. - Durch seine Schlauheit konnte der Wirt sich retten, doch der arme Schuhmacher kam ums Leben.

(Schams)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.  

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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