Ein Familienvater hatte eine grosse Kinderschar, und er ernährte diese mit Besenbinden. Eines Tages sah er einen schönen Vogel, rannte diesem nach und band deshalb nur wenig Besen. Am Abend wurde die Frau darob wütend, und vor lauter Streiten vergassen sie, dem Vogel zu fressen zu geben, und das kam ihnen erst im Bett in den Sinn. Auf Zureden des Mannes stand die Frau auf, ging hinunter und gab ihm zu fressen. Als sie die Falltüre öffnete, sah sie in der Stube eine grosse Helligkeit; der Vogel hatte ein silbernes Ei gelegt.
Am andern Tag ging sie zum Goldschmied, um das Ei einzutauschen, und sie bekam viel Geld dafür. Vor lauter Freude vergass sie, dem Vogel zu trinken zu geben. Erst im Bett kam es ihr in den Sinn, und auf Drängen des Mannes stieg die Frau wieder hinunter und fand ein goldenes Ei.
Nochmals wurde das Ei eingetauscht, und ob der Freude über dieses Gold vergass sie, dem Vogel zu fressen und zu trinken zu geben. Jetzt ging die Frau wieder hinunter, da hatte der Vogel ein diamantenes Ei gelegt.
Der Goldschmied hatte nicht genug Geld, um dieses auszuzahlen; deshalb fragte er, woher sie diese Eier hätten. Sie hätten einen Vogel, der sie lege.
Der Goldschmied kam und schaute den Vogel an. In der Familie des Besenbinders konnte man weder lesen noch schreiben; doch der Goldschmied sah, dass unter der Kehle des Vogels geschrieben stand: «Wer meinen Kopf isst, wird König werden; wer mein Herz isst, wird jede Nacht einen Beutel Geld unter dem Kissen haben.» Der Goldschmied wollte den Vogel kaufen. Doch alle sagten: «Wir verkaufen ihn nicht.» Da bot er ihnen an, sein ganzes Leben lang für sie aufzukommen und ihre Tochter zu heiraten, wenn sie ihm am Hochzeitstag den Vogel zu essen gäben.
Die Tochter war einverstanden, den Goldschmied zu heiraten, denn er war sehr reich. Am Hochzeitstag wurde der Vogel zubereitet. Zwei kleine Brüder, die zu Hause geblieben waren, assen davon aus Neugier, der eine das Herz, der andere den Kopf des Vogels. Als die Mutter es merkte, begann sie zu toben; da flohen die Kleinen und getrauten sich nicht mehr nach Hause zurück.
Am Abend gelangten sie in ein Wirtshaus, und der Wirt liess sie aus Mitleid übernachten. Am andern Morgen fand die Magd einen Beutel voll Geld unter dem Kissen, und auf die Buben fiel der schlimme Verdacht, das Geld gestohlen zu haben. Also stellte der Wirt die Frage: «Habt ihr hier nichts vergessen?» - «Nein», sagte der eine, «mein Sackmesser habe ich.» - «Gut, jetzt bleibt ihr da», meinte der Wirt, und er hielt sie bei sich, bis sie erwachsen waren, hielt sie recht und liess sie ausbilden.
Eines Tages war der König zu wählen. Der Wirt sagte: «Geht doch auch hin!» Er gab jedem gute Kleider und ein Pferd.
Nach ihrer Ankunft auf dem Platz erging der Befehl an die Menge, sich ruhig zu verhalten. Denn zu jener Zeit flog jeweils eine Taube über den Kopf jenes Mannes, der König werden sollte. Die Taube liess sich auf jenem Bruder nieder, welcher den Kopf des Vogels gegessen hatte, und er wurde König.
Der andere Bruder kehrte zum Wirt zurück und erzählte alles.
Der Bursche war jetzt reich genug, und der Wirt fragte, ob er nicht heiraten möchte. «Vielleicht gefällt dir eine von den drei Schwestern, die zuletzt aus der Kirche gekommen sind?» - «Jawohl!» - «Welche?» «Die Jüngste.» - «Die sollst du haben.» Und er heiratete sie. Kürzlich war die feierliche Hochzeit, und mir haben sie zur Hochzeit einen Hut geschenkt, den ich jetzt noch habe.
(Oberhalbstein)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.