Eines Tages wanderte der Heiland mit seinen Jüngern durch ein Dorf. Und als sie eine Gasse hinaufgingen, sah er mit grossen Buchstaben über einer Schmiede geschrieben stehen: Meister aller Meister. Unser Herr bleibt stehen, liest noch einmal diese Frechheit auf dem Schild und denkt: «Diesem Aufschneider will ich wohl zeigen, wer der Meister aller Meister ist.» Gesagt, getan. Er geht mit all seinen Jüngern in die Schmiede und bittet den Meister, ihm einen Augenblick sein Feuer zu überlassen, was der Schmied sogleich tut. Der Heiland macht sich daran, den Blasebalg zu treten und lässt sich noch vom Apostel Jacobus helfen. Als ein schönes Feuer brennt, geht er hin, nimmt den Petrus, der schon ein alter Mann mit grauem Bart und grauem Haar ist, hebt ihn hoch, packt ihn an den Beinen und stösst ihn mit dem Kopf ins Feuer, wie ein Stück Hufeisen. Selbst die Jünger waren zuerst ein wenig erstaunt, doch sie kannten ihren Meister und wussten, wieso er das tat. Jacobus jedoch vergass fast, den Blasebalg zu treten, und der Heiland musste ihm ein Zeichen geben. Der Schmied war fürchterlich überrascht, als er sah, wie der arme Petrus ins Feuer gestossen wurde. Da aber niemand etwas sagte, so schwieg auch er und schaute ganz gespannt, was daraus werde.
Als Petrus wirklich feuerrot war, da fasste ihn der Heiland an den Beinen, zog ihn heraus und legte ihn auf den Amboss. Dann begann er auf beiden Seiten zu hämmern, drehte ihn rundherum und liess auch noch den Apostel Andreas mit dem grossen Hammer draufschlagen.
Als der Heiland glaubte, dass Petrus die richtige Form habe, so stellte er ihn wieder auf die Füsse und hauchte ihm ein wenig von seinem Atem ein. Und Petrus stand da als der schönste Jüngling, kein einziges graues Haar und Barthaar mehr, schlank und gut gewachsen, weisse und rote Wangen wie Milch und Honig. Da hättet ihr sehen müssen, was für Augen der Schmied machte! Und wie er mit offenem Munde glotzte! So etwas hatte er noch nie gesehen! Das war ein Kerl von einem Schmied!
Unser Heiland genoss die Verblüffung des Schmieds, ging zu ihm hin und sagte: «Glaubst du immer noch, du seist der Meister aller Meister?» - «Nein!» antwortete der arme Schmied, «das sehe ich jetzt, dass ich das nicht bin.» - «Also!» meinte der Heiland, «so geh hinaus, nimm das Schild mit deiner Angeberei weg und bringe ein bescheideneres an.» Dann zog er mit seinen Jüngern weiter.
(Unterengadin)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.