Der Schmied von Samaria

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es ist bekannt, dass der Heiland bei seinem Aufenthalt im Judenland mit seinen Jüngern ab und zu in die drei Länder Galiläa, Samaria und Judäa reiste.

Als sie einmal in ein Dorf in Samaria kamen, hörten sie mit Erstaunen einen Mann aus vollem Halse singen. Sie gingen dem Gesang nach, der aus einer Schmiede heraustönte.

«Das ist sicher der Schmied, der jetzt singt», sagte dann Jakob, «der freut sich über seine wohlgeratene Arbeit und ist deshalb munter und zufrieden.»

Da wies ihn Johannes auf das Schild über der Tür hin: «Der kann wohl zufrieden sein, schau dort», und Jakob las: Meister über alle Meister.

«Ho ho!» rief da Simon Petrus aus, ohne etwas zu sagen.

Da lachte der Heiland und fragte: «Erklärst du uns jetzt, was du mit diesem "Ho ho!" meinst?»

Da war der gute Simon Petrus ein wenig überrascht - doch schliesslich antwortete er: «Meister, ich meine, dass dieser Mann nicht alle Schmiede kennt, um so etwas zu behaupten.»

Da erwiderte der Heiland: «Du hast vollkommen recht, doch um sicher zu sein, gehen wir jetzt hinein und schauen uns seine Arbeit an.»

Der Heiland ging zuerst in die Werkstatt, die Jünger folgten ihm, und sie fanden, wie vermutet, den Schmied, der neben seinem Amboss stand und sang, während er Schuhnägel machte.

Die Schmiede war hell, schön und geräumig, was den Jüngern bestens gefiel, und die Menge der vorhandenen Werkzeuge liess einen sehr geschickten Handwerker vermuten.

«Überlässt Ihr mir für einen Augenblick Euer Feuer?» fragte der Heiland den Schmied.

«Sehr gern», antwortete der und beeilte sich, die Eisen aus dem Feuer nehmen, legte neue Kohle dazu, pustete heftig mit seinem Blasebalg und sagte: «Nun nichts wie los!»

Da packte der Heiland Simon Petrus, hob ihn in die Luft und stellte ihn kopfvoran ins Feuer.

Die Jünger waren nicht gross erstaunt, denn sie kannten ihren Meister, der bei allem, was er tat, ihnen etwas Neues für ihr Wohl beibrachte.

Der Schmied jedoch knirschte mit den Zähnen, er kochte vor Wut und zitterte, dass - am helllichten Tag - ein so grauenhafter Mord in seiner Schmiede geschah, trotzdem blieb er - da alle schwiegen - ruhig, um das Ergebnis abzuwarten.

Der Heiland wendete jetzt schweigend den Jünger im Feuer, bis der Kopf feuerrot war, dann hob er ihn auf den Amboss und begann, ihn mit dem Hammer sorgfältig auf allen Seiten zu bearbeiten; und schliesslich, als die Form für ihn vollendet war, stellte er sie auf die Füsse, hauchte dem Gesicht Leben ein, und der Jünger stand wie neu geboren da, in voller Lebenskraft, weiss und rot wie Milch und Wein.

Ob diesem geheimnisvollen Tun glotzte der arme Schmied ganz verblüfft mit offenem Mund vor sich hin, denn er hatte so etwas noch nie gesehen, noch davon erzählen gehört. Selbst die Jünger genossen diesen Anblick.

Als dann auch der Heiland sah, wie der Mann völlig überrascht war, fragte er ihn: «Seid Ihr immer noch der Meinung, Meister über alle Meister zu sein?»

«Nein», antwortete der arme Schmied, «das sehe ich jetzt gewiss ein, dass ich es nicht bin.»

«Gut so», sagte der Heiland zu ihm - «jetzt könnt Ihr Euer Schild dementsprechend anpassen.»

(Unterengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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