Grettas Mutter war gestorben, und ihr Vater hatte sich wieder verheiratet. Doch die Frau war schlecht und wollte ihre Stieftochter loswerden. Eines Tages sagte sie zu ihrem Mann: «Mach dich auf den Weg und geh mit Gretta in den Wald, wenn ihr ein rechtes Stück weit drin seid, so kehrst du um und lässt sie drin. Sie kommt dann nicht mehr heraus, und wir sind sie los.» Doch Grettas Patin hatte das gehört, sie ging heimlich zu Gretta und sagte zu ihr: «Nimm diesen Fadenknäuel in die Rocktasche, wenn dein Vater mit dir in den Wald geht, und wenn ihr bei der Brücke unten seid, so tu, als würdest du dich bücken, um die Schuhe zu binden, dann befestige das Ende des Fadens an einem Brückenbalken. Und wenn ihr im Wald drin seid und dein Vater dich unter dem einen oder andern Vorwand verlässt, so setz dich hin und bleib eine Weile dort, und dann kannst du einfach dem Faden folgen. Der zeigt dir den richtigen Weg nach Hause.» Und Grettigna machte es so, wie die Patin es ihr gesagt hatte, und kam glücklich wieder heim. In der Stube war niemand, denn die Mutter ging zu dieser Zeit in den Stall, um dem Vater zu helfen, da stieg Gretta auf den Ofen.
Nach einer Weile kam die Stiefmutter, deckte den Tisch und rief den Vater zum Mittagessen. Sie hatte Würste gesotten und sagte zu ihrem Mann: «Komm jetzt essen, ich habe ein gutes Mittagessen gemacht, und wir wollen es uns schmecken lassen, jetzt, wo wir nicht mehr diesen Fresssack füttern müssen.» Doch der Vater schien keine grosse Lust zum Essen zu haben und sagte: «Oh - wäre nur meine Grettigna hier und könnte ich ihr auch eine Scheibe geben, dann würden mir die Würste schon schmecken, doch so...» Da liess sich vom Ofen herunter ein Stimmchen vernehmen: «O Vater, deine Grettigna ist hier, und wenn du mir eine Scheibe Wurst gibst, so bin ich ganz zufrieden, denn ich habe grossen Hunger.» Da freute der Vater sich sehr, Gretta wieder zu Hause zu haben, doch die Stiefmutter spie Feuer vor Wut. Eines Tages nun sagte sie wieder zu ihrem Mann: «Nimm Gretta und geh mit ihr holzen, und wenn ihr ein rechtes Stück im Wald drin seid, so geh du weg und lass sie drin, dann wird sie den Heimweg nicht mehr finden.» Doch dieses Mal war die Patin nicht dabei gewesen und hatte Gretta nicht warnen und ihr den Knäuel mitgeben können. Und als sie recht weit im Wald drin waren, begannen sie zu holzen. Da rollte der Vater einen Baumstrunk herbei, gerade auf die Hände der armen Grettigna, die im Bücken Tannenreisig zusammenlas, und die begann zu weinen und versuchte auf alle Arten, die Hände unter dem Baumstrunk hervorzuziehen. «Warte», sagte der Vater, «ich geh nur einen Stock suchen, um den Strunk aufzuheben, ich werde bald wieder da sein!» Und er ging und kam nicht mehr zurück. Grettigna war verzweifelt und weinte bitterlich. Da, auf einmal sah sie ein Füchslein vor sich stehen, und dieses begann zu scharren und zu lecken, zu lecken und zu scharren, bis es Grettigna gelang, ihre Hände unter dem Baumstrunk hervorzuziehen. Und das Füchslein sagte: «Wenn du so eine böse Stiefmutter hast, so komm mit mir in meine Höhle, denn dort hast du es besser als zuhause.» Und Gretta ging mit dem Füchslein, und das wäre ganz gut gegangen; doch der Fuchs hatte nichts zu essen für das Kind. «Weisst du was», sagte Gretta, «geh ins Dorf, in unser Haus, bei meiner Stiefmutter findest du genug zum Essen. Wenn die so schlecht ist, so geschieht es ihr recht, wenn wir etwas von ihrem Überfluss nehmen.» - «Ich möchte wohl dorthin gehen», antwortete das Füchslein, «doch wenn ich einem ganz grossen Hund oder einem Jäger begegne, dann weh mir, und du bleibst ganz allein hier und musst vor Hunger sterben.» Doch Gretta beruhigte es mit den Worten: «Dir geschieht sicher nichts, denn unser Haus steht zualleräusserst im Dorf, und du begegnest sicher keiner Menschenseele, und wenn du schaust, dass du zu der Zeit dort bist, wo meine Stiefmutter im Stall ist, so kannst du ganz gut etwas erwischen.» Und das Füchslein machte sich davon und gelangte unbemerkt in die Küche. Im Herdofen stand die Pfanne mit einem schönen Braten, und das Füchslein fackelte nicht lange, nahm gleich die Pfanne und alles und rannte mit diesem Leckerbissen dem Wald zu. Und als sie den Braten vertilgt hatten, ging es wieder hin. Dieses Mal lagen ein stattlicher Salsiz und eine Wurst in der Pfanne. Und wieder nahm es alles und lief mit seiner Beute zu Gretta in den Wald, und so ging es weiter. Wenn sie nichts mehr zu essen hatten, kam das Füchslein ganz einfach zur Stiefmutter und versorgte sich mit Lebensmitteln. Und es geschah ihr ganz recht, jawohl, warum war sie so schlecht mit der armen Grettigna gewesen!
(Oberengadin)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.