Erst vor kurzem hatte es Mittag geschlagen. Töchin und Töchet hatten sich auf der Bank vor dem Haustor eingefunden und wollten das Mittagessen herunterrutschen lassen, denn sie hatten wacker Knödel vertilgt. Da sahen sie eine Schar Buben mit Fässlein und Kesseln durch Sur Punt laufen; die wollten in die Heidelbeeren. «Wartet, wartet auch auf uns!» riefen sie, schossen von der Bank auf und durchs Haustor hinein, um der Mutter zu sagen, sie solle ihnen die Fässlein geben. Doch die Schlingel von Buben wollten nicht auf sie warten, und als sie aus dem Tor kamen, waren die andern über alle Berge. «Ja nun», sagten Töchin und Töchet, «wir holen die schon ein», und sie liefen, so schnell sie konnten. Doch bereits in in Riva d'God sahen sie ein paar Heidelbeersträucher und begannen sie abzulesen. Und als diese leer waren, sah man keine Spur mehr von den andern Buben.
Doch immer in der Hoffnung, sie zu finden, streiften Töchin und Töchet weiter im Wald herum und liefen und liefen, bis sie schliesslich kaum noch die Beine nachziehen konnten.
Die Sonne war schon untergegangen, und als sie mutterseelenallein mitten im Wald waren, bekamen sie grosse Angst. Doch da, auf einmal, o welche Freude, - gerade vor ihnen stand ein Häuschen. Sie überlegten nicht lange und gingen hinein. Ein altes Weiblein kam ihnen entgegen. «Was wollt ihr, meine Kinder?» fragte sie. «Oh», antworteten Töchin und Töchet aus einem Mund, «wir sind Heidelbeeren suchen gegangen und haben den Weg verfehlt, und jetzt kommt die Nacht, und wir sind todmüde, gelt, Ihr lasst uns hier bei Euch schlafen?» - «Ach, meine allerliebsten Kinder», antwortete das Weiblein, «von Herzen gern würde ich euch über Nacht behalten, doch sobald es dunkel ist, kommt der grosse Türke, und wenn der euch hier sieht, dann wehe euch!» - «Oh, liebe Frau», sagten die Buben, «lasst uns hier schlafen. Wenn wir uns in jener grossen Truhe dort in der Ecke verstecken würden, so sähe uns der grosse Türke nicht.» Und die Alte liess sich überreden und half ihnen in die Truhe. Wenig später hörten sie schwere Schritte im Hausgang, und eine Donnerstimme brüllte: «Potz Blitz, hier riecht’s nach Menschenfleisch; ein gutes Abendessen wartet auf mich.» - Töchin und Töchet, die Ärmsten, bekamen Gänsehaut, als sie diese Worte hörten; sie getrauten sich kaum zu atmen. Doch dann hörten sie die Alte sagen: «Aber warum nicht, du grosser Dummkopf, komm nur her und setz dich an den Tisch, habe ich dir doch eine zünftige Polenta gekocht, wirklich so eine, wie sie du gern hast, mit einer dicken Käseschicht drauf und im Fett schwimmend.» Und kurz darauf hörten sie ihn geräuschvoll essen und schmatzen wie unten im Schweinekoben. Und es ging nicht lange, bis er aus Leibeskräften zu schnarchen begann. Kaum wussten sie, dass er tief schlief, so schliefen sie auch schon.
Als es tagte, erschien die Alte mit zwei Holzschüsselchen, hob den Truhendeckel auf und flüsterte: «Da bring ich euch ein wenig Mehlschweize, esst sie rasch und kommt sofort mit mir, ich will euch bis zum Waldrand begleiten.» Ganz leise stiegen sie aus der Truhe und machten sich auf den Weg. Zuäusserst am Wald sagte die gute Alte ihnen adieu, und glücklich begaben sich die Buben auf den Heimweg. Als sie sich ihrem Haus näherten, sahen sie die Mutter, die eben die Fensterläden weit öffnete, und voller Freude riefen sie: «Mutter, hier sind wir!» - Und die Mutter küsste und umarmte sie, und sie begannen zu erzählen, wie es ihnen gegangen war. Doch jeder gab dem andern die Schuld. «Schuld an allem hat Töchin», sagte Töchet, «er kam nicht vom Fleck, und so haben wir die Buben nicht eingeholt.» Und Töchin sagte: «Nein, du bist schuld, wenn du nicht solche Riesenschritte gemacht hättest, wäre alles gut gegangen. Doch ich wollte mit dir Schritt halten und bin über eine Wurzel gestolpert, bin hingefallen und habe alle meine Heidelbeeren ausgeleert, und dann mussten wir sie wieder zusammenlesen, und unterdessen sind die andern verschwunden.» Doch die Mutter sagte: «Es sei, wie es wolle, doch euch zwei lasse ich nicht mehr in die Heidelbeeren, das gebe ich euch schriftlich.» Und Töchin und Töchet erwiderten: «Doch, zur guten Alten im Wald musst du mitkommen, um ihr zu danken. Jetzt finden wir den Weg gut.» - Und tatsächlich, eines schönen Tages gingen alle drei gemeinsam dem Wald zu, mit einem Korb, der sein Gewicht hatte, das kann ich euch sagen. Als sie bei der guten Alten waren, schlurfte die bald in die Küche, um einen Spritzer Kaffee für ihre Gäste zu kochen. Und unterdessen packten die ihren Korb aus, und es kamen verrückt gute Dinge zum Vorschein. Zuallererst eine Decke, die sie auf dem Tisch ausbreiteten, und dann alles Mögliche an feinen Sachen: Schildbrote von Casaccia, ein ganzer Butterballen, ein grosses Stück Schinken, ein Zieger und ein zünftiger Salsiz, und es gab ein ganz gutes Essen.
(Oberengadin)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.