Gevatter Heuschrecke und Gevatterin Schnecke wollten heiraten. Da war fast die ganze Gemeinde Celerina und Crasta eingeladen worden, und man glaubte, niemanden vergessen und beleidigt zu haben.
Unterdessen war der Tag der grossen Hochzeit in Sur Punt gekommen. Erst mitten im Essen bemerkte man, dass Gevatterin Schnecke fehlte. Und alles begann zu sagen: «Bewahre und behüte uns Gott, wo ist sie? Wir werden doch nicht vergessen haben, sie einzuladen? Die kriecht uns auf den Berg hinauf und kommt nicht mehr herunter.» Und alles wandte sich zum Gevatter Hahn, der eine finstere Miene aufgesetzt hatte, und einer gab die Schuld dem andern. Schliesslich wurde beschlossen, nach Crasta hinüberzugehen und sie zu holen. Um klar und deutlich zu zeigen, dass sie nicht die geringste Lust hatte, sich den andern anzuschliessen, war Gevatterin Schnecke auf die Ofentreppe gekrochen und machte ein schrecklich beleidigtes Gesicht, und niemandem gelang es, sie zum Mitkommen zu überreden.
Jetzt am Abend, als es dunkelte und sie dachte, dass der Tanz begonnen habe, so nahm es sie doch wunder, mit wem Gevatter Hahn den Ball eröffnete. Um von den Hochzeitsgästen nicht gesehen zu werden, war sie langsam bis hinter den Ofen gekrochen und hatte sich im Rock von Gevatter Hahn versteckt. Doch jetzt, mitten in einem Hopser von Nuottun streckte unsere gute Gevatterin Schnecke, damit ihr nichts entging, den Kopf zu sehr hervor, und - mag es so oder anders gegangen sein - auf einmal lag sie vor den Füssen von Gevatter Hahn. Was für ein Auflachen und was für ein Gelächter! Alle begannen zu rufen: «Bravo, bravo Gevatterin Schnecke! Oh, wussten wir doch, dass du irgendwann kommen würdest. Los, los, komm jetzt nur her und setz dich an den Tisch!» Sie liessen sofort Essensreste von der Hochzeit herein bringen und die Schnecke tat nicht mehr lange geziert, sie setzte sich hin und griff ebenso tüchtig zu wie die andern, und die ganze Gesellschaft war froh und guter Laune. - Mich hatten sie nicht eingeladen, aber sie schickten mir etwas Wein in einem Sieb und ein wenig Brot in einem Fässlein.
(Oberengadin)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.