Im Val Müstair in Santa Maria unten lebte einmal eine Frau namens Margretta, die arbeitete als Bäckerin und Müllerin. Sie hatte eine Tochter namens Ursigna; die war ihre richtige Tochter, und die Stieftochter hiess Maria. Aber alle Leute nannten Maria den Goldstern, denn sie hatte von Geburt an einen prächtigen goldenen Stern auf ihrer Stirn. Sie hatte auch eine wunderschöne Gestalt und ein ebensolches Gesicht, und gerade deshalb mochte die Stiefmutter sie weder sehen noch leiden. Sie hätte diese Schönheit lieber ihrer Ursigna gegönnt, denn die war schrecklich hässlich und pockennarbig und überall verhasst, vor allem wegen ihrem bösen Maul. Margrettas Haus stand zuäusserst im Dorf, und ein Stück unter dem Haus befand sich die Mühle. Den Brotofen hatte sie im Haus, und sie backte gelegentlich das Brot für die Leute im Dorf, aber gern ging niemand zu ihr. Sie redete nämlich viel Schlechtes über die Leute, und manche sagten sogar, sie hätte auch lange Finger. So kann man sich wohl denken, was der Goldstern mit diesen beiden auszuhalten hatte. Sie misshandelten sie Tag für Tag - und besonders nachdem Marias Vater gestorben war.
Einst hatte der Goldstern viel bessere Tage gesehen. Marias Eltern waren reiche Leute. Sie waren jahrelang in Holland gewesen, wo der Vater eine gute Konditorei besass. Zu ihrer Tochter waren sie immer sehr gut gewesen; sogar ein Pferd hatten sie ihr gekauft, und Maria wurde eine gute Reiterin. Doch als der Vater, der nach dem Tod seiner ersten Frau nach Hause zurückgekehrt war, die Bäckerin heiratete, da waren die guten Tage unserer Maria vorbei. Der Vater starb, und die Stiefmutter wurde von Tag zu Tag böser zu ihr und schalt sie täglich für jede Kleinigkeit. Sie war gut genug, die Kuh, einen Ochsen und zwei Ziegen zu füttern, während die gnädige Frau Schwester in der Stube sitzen und Spitzeneinsätze häkeln und andere schöne Handarbeiten machen konnte, die Maria ihr gezeigt hatte. Alle Leute sagten: «Sünde und Schande, dass der schöne Goldstern in den Stall gehen, Kühe füttern und melken muss!»
Am meisten betrübte es Maria, dass die Stiefmutter ihr nicht erlaubte, ihre gute Patin zu besuchen. Jedes Mal sagte sie: «Aha! Gehst du wieder zu jener verfluchten Hexe am Ofenpass, dort wirst du gute Ratschläge bekommen - die beherrscht auch das Handwerk des Talerabzwackens!» Sie war fürchterlich wütend auf Marias Patin, denn sie wusste ganz genau, dass der Vater ein paar Tage vor seinem Tod alle seine Wertschriften der Patin übergeben hatte, und ihr hatte er die Dinge, die weniger wert waren, hinterlassen.
An einem Dezembertag, als viel Schnee lag, kam die Bäckerin mit einem Fässlein und einem Bündel mit dem Essen in die Stube und sagte zu Maria: «Nimm, hier hast du etwas zu essen, du gehst schleunigst Preiselbeeren suchen; hier ist der Korb, und schau nur gut, dass du mir nicht nach Hause kommst, ohne ihn bis zum Rand gefüllt zu haben, sonst wirst du sehen, was geschieht!» - «Um Gottes willen, um Gottes willen», sagte Maria weinend, «Ihr wollt mich doch nicht heissen, bei diesem Schnee und dieser Kälte Preiselbeeren zu suchen? Wo – in Gottes Namen, soll ich welche finden, wo doch überall hoher Schnee liegt?» «Was, du willst ausrufen und mir widersprechen? Mach, dass du fortkommst, und komm mir nicht mehr unter die Augen!» Und leise sagte die Alte zu Ursigna: «Jetzt warte nur, meine Ursigna, bald werden wir die Armut los sein, denn die andere wird uns nicht mehr lange im Weg stehen.»
Die arme Maria nahm jetzt ihr Essen und ihren Korb und ging. Aber wohin sie sich wenden wollte, um Spuren eines Weges zu finden, überall lagen schrecklich hohe Schneemassen; sie musste hindurchwaten und sich einen Weg bahnen. Im Wald sah man höchstens einen Stein herausragen; dort machte sie hie und da eine kleine Pause und schaute umher, ob sie nicht etwa Preiselbeeren sehe. Sie war todmüde und konnte fast nicht mehr weiter. Sie warf einen Blick zur Sonne und sah, dass es um Mittag herum sein mochte. Da ging sie so rasch wie möglich weiter, und bald war sie am Ende des Waldes. Wie sie nun über die Ebene schaute, sah sie ein Stück weiter vorne ein grosses Haus, das von einer hohen Mauer und Büschen völlig umgeben war. «O behüte mich Gott», dachte Maria, «wer wird wohl in diesem Haus sein, vielleicht Räuber und Verbrecher! O ich Arme, dass ich an so einen Ort geraten muss!» Und je weiter sie ging, desto grösser wurde ihre Angst und desto langsamer ging sie. Da sah sie, als sie genauer aufs Haus schaute, draussen vor dem Tor einen Mann. Sie ging ganz langsam weiter, und als der Mann sie bemerkte, kam er ihr ein paar Schritte entgegen, gab ihr die Hand und sagte: «Guten Tag, guten Tag, schöne Maria mit dem goldenen Stern.» Sie fürchtete sich im ersten Augenblick, aber der Mann sprach: «Fürchte dich nicht, ich tu dir nichts zu Leide, ich habe dich erkannt, auch wenn du mit dem Kopftuch die Stirne verhüllt hast, damit man den goldenen Stern nicht sieht. Komm nur mit mir in die Stube und fürchte dich nicht, auch wenn du drinnen elf Männer vorfindest. Ich bin der einzige von uns zwölfen, der sprechen kann; alle andern sind stumm und verzaubert. Verzaubert bin ich zwar auch, aber dass der Drache mich nicht stumm machen konnte, das habe ich meiner alten Tante zu verdanken, die war schlau und kannte die Schliche des Drachen.» Nun musste Maria in die Stube gehen, und als sie jene Männer um den Tisch herum sitzen sah, fürchtete sie sich im ersten Augenblick sehr; als sie jedoch merkte, dass alle ruhig waren und dass der zwölfte sie hiess, sich an das Tischchen zu setzen, nahm sie Platz und stellte ihr Bündel auf den Tisch. Der Mann, der sie empfangen hatte, kam nun herbei und begutachtete ihr Essen; aber das war mehr als schäbig: nur eine schimmlige Wurst, ein Stück hartes Brot und ein Fässlein Wasser. Der Mann fragte, ob er ihr Essen haben könne, und sie sagte, er solle es ruhig nehmen, doch die Wurst sei schimmlig. Der Mann ging mit dem Bündel zur Tür hinaus, und eine Weile später kehrte er damit zurück, öffnete es und sagte zu Maria: «Ich habe dein Essen gegen anderes getauscht; jetzt hast du da eine gute Wurst, frisches Brot und Wein statt Wasser. So iss und trink nun, damit du Kraft hast, nach Hause zu gehen.» Als Maria ein wenig gegessen hatte, stand sie auf und machte sich bereit, um heimzugehen. Jetzt fragte der Mann Maria: «Oh, sag mir doch, weshalb bist du eigentlich bei diesem tiefen Schnee hierher gekommen?» Maria begann zu weinen und antwortete: «Oh, ich Arme, ich kam Preiselbeeren suchen und habe keine einzige gefunden, und nun muss ich mit dem leeren Korb zurückkehren - ich darf meiner Stiefmutter nicht unter die Augen treten.» Da entgegnete der Mann: «Warte nur einen Augenblick hier, und gib mir deinen Korb; ich will dir helfen.» Er nahm den Korb und ging; aber es dauerte nicht lange, so kam er zur Tür herein und gab ihr den Korb, mit den schönsten Preiselbeeren gefüllt. Maria konnte ihm nicht genug danken, doch der Mann sagte nur: «Halte mit deinen Händen die Schürze auf», und er liess etwas hineinfallen, das Maria nicht sah. «Hier ist etwas drin», sagte er, «das darfst du nicht anschauen, bis du zu Hause bist. Gib Acht, gut Acht, dass du nicht neugierig wirst, auch wenn die Schürze immer schwerer werden sollte, und erst, wenn du in der Stube deiner Patin bist, darfst du wissen, was drin ist. Das alles gehört dir, doch gib es der Patin und sag ihr, sie solle es aufbewahren, bis du eines Tages zu ihr gehen kannst, dann wird sie dir alles zurückgeben.»
Maria machte sich nun auf den Weg, und der Mann sah, dass sie auf der rechten Seite gehen wollte, da sagte er zu ihr: «Halte dich links, da ist gepfadet.» Und Maria kam ganz gut vorwärts, und ehe sie sich’s versah, kamen schon die ersten Häuser von Santa Maria. Sie war froh, denn die Schürze schien immer schwerer zu werden, aber trotzdem schaute sie kein einziges Mal hinein. Als sie in der Stube der Patin war, erzählte sie in aller Eile, wie ihre verbrecherische Stiefmutter sie geschickt hatte, Preiselbeeren zu suchen und was mit ihr geschehen war. Dann breitete sie die Schürze aus, und da kamen Päcklein und wieder Päcklein zum Vorschein, und die Patin öffnete sie. Darin war allerlei Schmuck: goldene Figürlein, Ohrringe, Ketten und schöne Sachen jeglicher Art; aber zuletzt kam noch ein Säcklein, das war schrecklich schwer. Die Patin nahm es sofort, verschloss es in einem kleinen Schrank und sagte zu Maria: «Das ist das Beste von allem zusammen, das wird uns eines Tages einen grossen Dienst erweisen - aber geh jetzt schleunigst zur Bäckerin hinab, sonst bekommst du Schläge!»
Maria ging beim Haus der Stiefmutter durch die kleine Tür des Vorstalls hinein, denn sie dachte, zu dieser Stunde könnten sie noch im Stall sein. Aber kaum stand sie vor der Tür, so hörte sie die Stiefmutter sagen: «Siehst du da, Ursigna, habe ich dir nicht gesagt: sie kommt nicht mehr zurück, entweder ist sie unterwegs erfroren, oder sie ist dem Drachen in die Hände gefallen.» - «Heute ist ein guter Tag, jetzt ist alles mein, denn die hat viel Hab und Gut!», sagte Ursigna. Die arme Maria öffnete die Stalltür, trat ein und gab den Korb voll Preiselbeeren der Stiefmutter, und die machte: «Hm - hm, ja, ja, da wirst du gute Hilfe gehabt haben - aber was für ein Anstand ist das, um diese Zeit nach Hause zu kommen - schämst du dich nicht, dich so lange auf der Strasse herumzutreiben? - Komm, Ursigna, wir gehen jetzt in die Stube hinauf, und du machst hier im Stall fertig», sagte sie zu der armen Maria. Und die ging nach Erledigung ihrer Arbeit zu Bett, doch sie schlief die ganze Nacht nicht; denn sie musste immer daran denken, dass die Alte sie eines Tages aus dem Weg räumen werde. Und es war auch die Absicht der Stiefmutter, dies zu tun, doch sie wollte nur eine gute Gelegenheit abwarten, und so ging es weiter bis zum Mai.
Da kam eines Tages ein Mann mit mehreren Säcken Mehl vom Tirol herauf, und die Bäckerin kaufte sie und liess sie in die Mühle stellen. Zwei Abende später sprach sie zu Maria: «Du gehst zur Mühle hinunter, bleibst diese Nacht dort und hältst Wache, damit die Mäuse mir nicht die neuen Säcke durchlöchern. Hast du das zufällig begriffen, oder hast du Lust zu bocken, du verdammtes Luder?» - «Oh, Gott behüte, was fällt Euch ein? Wollt Ihr mich wirklich gewaltsam sterben lassen? Wisst Ihr nicht mehr, dass Ihr mir selbst erzählt habt, dass der Drache in der Nacht umgeht und jene Leute, die nachts in der Mühle unten sind, tötet und ihre Haut auf dem Dach ausbreitet, und Ihr selbst habt gesagt, dass Ihr die Häute auf dem Dach gesehen habt», sagte Maria weinend. Doch die böse Alte sprach: «Was? Willst du trotzen? Glaubst du, weil du einen goldenen Stern auf der Stirn hast, eine Prinzessin zu sein und tun zu können, was du willst? In der Küche draussen ist dein Essen - gehst du nun augenblicklich zur Mühle hinunter? Sonst werde ich etwas anderes finden, um dich fortzujagen. Hast du verstanden?» Und mit einem Stoss beförderte sie Maria zur Tür hinaus, und auch Ursigna ging ihr ein Stück hintennach, um zu schauen, ob sie wirklich in die Mühle gehe. Wie Margretta und Ursigna wieder in der Stube waren, sagte Ursigna mit grosser Freude zur Mutter: «Ruf mich morgen früh, damit ich sehen kann, wie Marias Haut auf dem Dach schimmert.»
Zur selben Zeit, da jene beiden bösen Weiber sich freuten, Maria los zu sein und ihr ganzes Vermögen zusammenraffen zu können, war die arme, unglückliche Maria in der Mühle unten. In der alten Stube sass sie beim Ofen und hatte ihr Essen daneben auf dem Klapptisch liegen. Bald betete sie, bald sang sie schöne Psalmen, und bald weinte sie. Die Zeit schien nicht mehr enden zu wollen. Je näher es gegen Mitternacht ging, desto mehr wuchs die Angst, und wenn der Wind am Laden des Stubenfensters rüttelte, so dachte sie: «Jetzt kommt der Drache, und der frisst dich auf!» Kurz nachdem es auf dem Kirchturm elf geschlagen hatte, knotete sie ihr Bündel auf, und darin waren wiederum bloss eine dürre, schimmlige Wurst und ein Stück Brot noch von Neujahr her. Kaum lag alles auf dem Tisch, so ging um sie herum ein schreckliches Getöse los. Es schien, als wäre es zwischen den Wänden, und als ob diese krachen würden, und bald begann es zu scharren, und es war, als ob Ballen hin und her gerollt würden, so dass Maria vor Angst zu zittern anfing. Da kommt auf einmal aus einem Loch in der Wand eine Maus hervor und dahinter eine Schar Mäuse, die schienen ein wenig kleiner zu sein, und sie trippelten zu Maria hin. Die alte Maus sagte: «Guten Abend, schöne Maria mit dem goldenen Stern, was machst du hier, bist du am Essen, und ist es gut? Willst du vielleicht auch uns ein bisschen geben, denn wir haben einen Heisshunger?» - «Ja, ja, kommt nur her, ich gäbe euch zwar gern etwas Besseres, aber wenn ich nur ein wenig hartes Brot und eine schlechte Wurst habe! Aber wartet, ich will euch kleine Stücklein abschneiden, damit ihr besser fressen könnt.» Und die Mäuse frassen und frassen, bis sie sich kaum mehr bewegen konnten; dann sagte die alte Maus: «Du warst gut zu uns und hast sogar uns dein Essen überlassen, und jetzt will ich dir auch sagen, wie du es anstellen musst, damit der Drache dich nicht auffrisst. Schlag Mitternacht wird er ans Tor klopfen und rufen: "Schönes Mädchen, lass mich ein!" und du sag nur: "Ich lass Euch sofort ein, aber ihr müsst mir zuerst ein Kleid aus gelbem Brokat und ein blaues und alles, was dazugehört, bringen." Wenn er diese beiden dann bringt, so trägst du ihm auf, er solle noch ein drittes Kleid bringen, aber schau, schau gut, dass du ihn jedes Mal lang hinhalten kannst. Wenn er das zweite Mal mit der Ware zurückkehrt, so stellst du rasch, noch ehe er eintrifft, jene zwei leeren Kessel, die im Gang stehen, mit einer Lochkelle drin vor das Tor, und wenn er herein will, sagst du: "Ich lasse Euch beim dritten Mal ein, wenn Ihr die zwei Kessel mit frischem Wasser vom Bach füllt." Wenn du dies tust, wird es dir gut gehen», sagte die grosse Maus noch. Dann rief sie die andern und - wie der Blitz verzog sich die Schar in das Loch, und Maria war allein. Doch es dauerte nicht lang, so schlug es auf dem Kirchturm Mitternacht und - auf den letzten Ton rüttelte es so schrecklich an der Tür, dass Maria beinahe zu Boden fiel, und eine tiefe Donnerstimme brüllte: «Schönes Mädchen, lass mich ein!» Maria öffnete rasch die Stubentür und rief hinaus: «Ich will dich wohl einlassen, aber du musst mir zuerst zwei Kleider bringen: ein schönes aus gelbem Brokat mit allem, was dazugehört - aber vergiss die passenden Schuhe und das Kopftuch mit den goldenen Spitzen nicht, und bring mir auch eine Halskette und einen schönen Kamm.» Der Drache begann zu murren und brummte: «Mach vorwärts, ich muss weit gehen und kann hier nicht so lange warten», doch Maria sagte: «Du musst mir noch ein himmelblaues Seidenkleid bringen, mit goldenen Sternen und allem, was dazugehört.» Nun ging der Drache, aber so lange blieb er nicht weg, und mit einem noch stärkeren Schlag gegen die Tür brüllte er: «Schönes Mädchen, lass mich ein!» Die Haustür war alt und zu kurz, daher war daran ein Brett angesetzt worden, und dieses konnte man auf- und zuklappen. Innen an der Tür war hierzu ein grosser Stein mit einem Strick angebunden. Doch für den Drachen war der Spalt zu klein, so dass er das Haus nicht betreten konnte. So klappte er das Brett auf und stiess danach das Bündel mit den Kleidern unten durch. Maria sagte: «Ich will dich einlassen, aber zuerst bringst du mir noch ein drei Ellen langes schönes schwarzes Samtkleid, und schau, dass du nicht den schwarzen Samthut vergisst, mit einer weissen Feder, so lang, dass man sie ums Ohr wickeln kann.» Der Drache entfernte sich murrend, aber diesmal blieb er ein wenig länger weg, und als er kam, versetzte er der Tür einen solchen Stoss, dass die Fenster klirrten, und mit einer schrecklichen Stimme schrie er: «Schönes Mädchen, lass mich ein!» Und er schob das Bündel mit dem Samtkleid unter der Tür hindurch. Maria rief hinaus: «Ich lass dich ein, aber zuerst musst du zum Bach hinüber und mir diese beiden Kessel füllen, ich habe so einen Durst, dass ich fast sterben muss.» Der Drache nahm die beiden Kessel, ging mit ihnen zum Bach und begann, das Wasser mit der Kelle zu schöpfen. Aber es war dunkle Nacht, und er sah nicht, dass die Kelle voller Löcher war: er konnte sie füllen, wie er wollte, die Kessel blieben immer leer. Da hörte er auf einmal, wie es auf dem Kirchturm eins schlug mit einem schrecklichen Gurgeln stand er auf, die Kessel fielen ins Wasser, und wie ein Rauch war der Drache verschwunden!
Unterdessen hatte sich die unglückliche Maria in der Stube eingeschlossen und erwartete mit grosser Angst jeden Augenblick die Rückkehr des Drachen. Die Stunden vergingen eine um die andere, doch der Drache machte sich nicht bemerkbar, und so liess die schlimmste Angst bei Tagesanbruch nach. Als es fünf schlug, fasste sie Mut, öffnete die Stubentür, ging in den Gang hinaus und holte die beiden Bündel herein, die ihr der Drache gebracht hatte. «Um Gottes willen, um Gottes willen, wie prachtvoll!» dachte sie, als sie die Bündel auspackte und die gewünschten Kleider und alles, was dazugehört, fand. In einer Schachtel lagen auch verschiedene wunderschöne Ringe und Ohrringe drin, und die steckte sie in die Tasche, und die Kleider faltete sie sorgfältig zu einem Bündel zusammen.
Jetzt schaute sie aus dem Fenster und sah Licht im Stall der Stiefmutter sowie den Kamin, der rauchte. Sie nahm ihre Sachen unter den Arm, ging hinauf und trat durch das Tor des Vorstalls. Da hörte sie, wie die Stiefmutter der Ursigna, welche im Nebenstall draussen war, zurief: «Soeben bin ich wieder ein Stück hinuntergegangen, um zu schauen, ob die Haut auf dem Dach ausgebreitet ist, aber es ist nichts zu sehen; doch tot ist sie, das ist sonnenklar!» Jetzt öffnete Maria die Tür und trat in den Stall. Als hätte sie einen Schlag gekriegt, stand die Stiefmutter da, aber nur für einen Augenblick; dann warf sie auf Maria einen Blick, der dieser das Herz zerriss, und schrie: «An der Zeit ist es, dass du füttern gehst, du faules Luder, du wirst die ganze Nacht geschlafen haben, und unterdessen werden die Mäuse meine Säcke zerfressen haben - aber warte nur, ich will unten nachschauen - du wirst drankommen!» Unterdessen öffnete Maria ihr Bündel, nahm das gelbe Brokatkleid hervor und wollte es Ursigna vorführen, dann zeigte sie ihr die Ringe und sagte: «Hier, lies aus, welchen du willst.» Nun begann sie zu erzählen, wie gut die Mäuse zu ihr gewesen waren, aber die Stiefmutter brachte sie mit Anschreien zum Schweigen, und Ursigna keifte: «Behalte deine Ringe nur für dich! Heute Abend gehe ich selbst in die Mühle und schaue, ob ich nicht noch schönere Ringe als du erhalte», und beide gingen aus dem Stall. Doch jetzt ermahnte die Mutter Ursigna: «Ach sag, bist du wirklich verrückt geworden, in die Mühle hinunter zu wollen? Glaubst du, du bist so schlau wie die da drin und kommst ebenfalls ungeschoren davon? - Nein, nein, das lasse ich keinesfalls zu.» Aber Ursigna liess sich die Sache nicht ausreden, und je mehr die Mutter beharrte: «Bleib du da», umso mehr entgegnete sie: «Ich gehe.» Und so wurde es Abend. Da hiess Ursigna ihre Mutter: «Jetzt gib du mir nur etwas Rechtes zum Essen mit, Salsiz, Schildbrot und ein Fässlein guten Wein.» Abends um neun ging Ursigna in die Mühle hinunter. Die Mutter legte nun in der Küche ein grosses, rot glühendes Holzscheit unter den Kessel, dann ging sie hinauf in die Kammer, um zu schlafen. Doch gerade am besten schlief sie nicht, denn immer wieder kam ihr ihre Ursigna in den Sinn. Zweimal stieg sie aus dem Bett und trat ans Fenster, um hinauszuschauen; aber es schien alles ganz ruhig zu sein, und sie sah niemanden herumgehen.
Doch drunten in der Mühle ging es nicht gerade so ruhig zu und her. Sobald die Mäuse kamen und um Nahrung baten, schrie Ursigna. «Was? Ihr wollt, dass ich euch von meinem guten Salsiz und von meinem Schildbrot gebe? Nein, nein, so verrückt bin ich nicht!» Die alte Maus gab nun zurück: «Ist gut! Jetzt warte nur, ich will dir schon raten, was du machen musst, damit der Drache dich nicht auffrisst» - und auf und davon waren die Mäuse und achteten nicht auf Ursignas Rufe. Bald danach rief der Drache: «Schönes Mädchen, lass mich ein!» und sie wusste nicht was sagen - der Drache zertrümmerte die Tür mit ein paar Schlägen, kam herein und frass sie auf.
Schon vor fünf standen Maria und die Bäckerin, die während der ganzen Nacht aus Sorge um Ursigna nicht schlafen konnten, auf. Die Bäckerin schaute hinunter aufs Dach der Mühle, doch es war dunkel und am Regnen, deshalb sah sie nichts; so ging sie in die Küche und schob Holz unter den grossen Kessel. Unterdessen machte sich Maria auf zum Stall. Aber sobald sie einen Armvoll Heu in den Futtertrog gelegt hatte, ging sie durch den Vorstall hinaus und zur Mühle hinunter, und als sie ziemlich nahe dran war, sah sie mit grossem Schrecken Ursignas Haut weit ausgebreitet auf dem Dach. Sie rannte sofort zurück, und kaum war Maria im Haus, so ging die Stiefmutter hin und sah ebenfalls die Haut ihrer Ursigna auf dem Dach. Jetzt begann sie, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen, sie schrie, weinte und rief um Hilfe, so dass bald das ganze Dort herbeilief, um zu sehen, wie verrückt sie tat. «Schuld an allem ist dieses verdammte Luder da!» schrie sie, zeigte auf' Maria und wollte sie schlagen. Doch alle kannten die Bäckerin und auch Maria, so hatte niemand Mitleid mit der bösen Alten. In ihrer Verzweiflung rannte die in die Küche, schob den Scheitstock neben den grossen Kessel, sprang darauf und — plumps! - hinein ins kochende Wasser!
Sobald die Patin dies vernommen hatte, kam sie in Marias Haus. Die war nach allem, was sie hatte durchmachen müssen, noch traurig und weinte. Die Patin tröstete sie und sagte, indem sie aus ihrem Korb ein Säcklein nahm (gerade jenes, das Maria von jenem Mann erhalten hatte, der ihr die Preiselbeeren besorgte): «Verlier keine Zeit mit Grübeln und Klagen; du solltest jetzt nicht mehr an die Toten, sondern an die Lebenden denken und denen Gutes tun. Dazu musst du dich augenblicklich auf den Weg machen und wieder an den gleichen Ort gehen, wo du auf Befehl deiner Stiefmutter Preiselbeeren suchen musstest. Nimm hier dieses Säcklein, aber schau nicht, was drin ist, und wenn du auf dem Steg bist, so wirf es ins Wasser, und es wird dir gut gehen. Aber geh sofort!» Maria ging.
Auf dem Steg nahm sie das Säcklein aus dem Korb und warf es ein Stück weit hinaus ins Wasser. Aber in dem Augenblick gab es einen so starken Schlag, dass das ganze Tal erbebte, und Maria fiel zu Boden und war für eine gute Weile betäubt. Langsam stand sie auf und wollte weitergehen, doch da kamen ihr zwölf Männer entgegen, und sie erkannte sogleich den Mann, der ihr die Preiselbeeren gegeben hatte. Noch mehr allerdings überrraschte sie es, dass jetzt alle reden konnten und herkamen, um ihr die Hand zu geben. Sie dankten Maria dafür, dass sie das Säcklein ins Wasser geworfen und sie so erlöst hatte. «Jetzt ist der Drache mausetot», riefen sie, «und schadet niemandem mehr!», und alle waren froh und glücklich. Marias alter Bekannter jedoch wandte sich zu ihr und sagte: «Ich muss dir jetzt sagen wer wir sind und warum wir in diesem Tal eingeschlossen waren. Ich bin der Sohn des Königs von Österreich, und ich zog einmal mit meinen Freunden los, um auf die Jagd zu gehen, aber wir hatten das Unglück, den Weg zu verlieren und gerieten in das verwunschene Tal. Ein wenig weiter gegen das Haus da ist auch ein Steg, kaum waren wir darüber geritten, gab es einen so schrecklichen Stoss, dass wir zu Boden stürzten, und von dem Augenblick an waren alle stumm, nur ich konnte noch sprechen. Wie wir ins grosse Haus gelangt sind, weiss keiner von uns, aber drin waren wir, und weiter, als die Einfriedung reicht, konnten wir nicht gehen, und wir können dir dankbar sein, weil du uns vom Drachen befreit hast.» Maria erzählte nun, wie es ihr mit der Stiefmutter und Ursigna gegangen war; dann sagte sie: «Ich kehre jetzt sofort zurück und sage der Patin, dass ihr alle erlöst seid.» Die Männer gingen ganz fröhlich in ihr Haus, während Maria zurückkehrte. Die Patin war über die gute Nachricht froh und glücklich.
Nachdem die Stiefmutter und Ursigna beerdigt waren, wohnte Maria im Haus der Patin. Sie half ihr viel im Haus und auf dem Feld. Eines Tages, als sie im Garten am Jäten waren, hörten sie auf einmal einen Lärm, wie von Pferdegetrappel, und als sie aufschauten, sahen sie eine ganze Kompanie Reiter, und einer davon stieg vom Pferd, kam zum Gartenhag herüber und sagte zu Maria, indem er sie ansah: «Guten Abend, guten Abend, Maria mit dem goldenen Stern; fürchte dich nicht, ich tu dir nichts zu Leide, ich bin nur der, welcher dir die Preiselbeeren gegeben hat.» Jetzt begrüsste ihn Maria mit einer schönen Verbeugung, da sagte er: «Ich bin hierher gekommen, um dich zu fragen, ob du meine Braut sein willst, denn wisse, ich hab dich gern.» Maria wusste zuerst nicht, was antworten; sie sah jenen jungen Mann gern, und so erwiderte sie: «Ich spüre in meinem Herzen auch Liebe zu Euch, aber ich bin arm, und was würden bloss der König und die Königin dazu meinen?» - «Das», entgegnete jetzt der junge Mann, «lass du nur meine Sorge sein – ich weiss, dass wir glücklich und zufrieden sein werden, wenn ich mit dem Goldstern in den Palast komme.» Nun verlobte sich Maria mit ihm, und er fragte, zur Patin gewandt, ob sie damit einverstanden sei, dass er Maria sofort mit sich nehme. Obwohl die Patin sich ungern von Maria trennte, willigte sie dennoch ein. Während die Reiter draussen warteten, ging Maria in ihre Stube, machte sich zurecht, nahm ihr schönes schwarzes Samtkleid hervor, zog es an, setzte den Hut mit der weissen Feder auf, die man ums Ohr wickeln konnte, und nahm die Peitsche mit dem goldenen Griff, die sie in Holland zum Reiten gebraucht hatte. Unterdessen hatten sich ums Haus herum Leute versammelt, welche die Reiter sehen wollten; aber noch viel grösser war die Überraschung, als Maria mit dem Samtkleid erschien und den Prinzen um die Erlaubnis bat, ein Pferd reiten zu dürfen. Der gab augenblicklich Befehl, den schönsten Schimmel für Goldstern auszusuchen, und als man den brachte, war Maria schnell wie der Blitz aufgesessen und liess das Pferd tänzeln, so dass alles erstaunt dastand. Und als die Reiter gehen wollten, da begleitete sie das Volk, und alle jubelten und wünschten dem Goldstern gute Tage. - Und in Österreich war die Freude nicht kleiner. Hier gab es ein Festmahl übers andere, und eine derartige Hochzeit gab es nie wieder, und - das Märchen ist zu Ende!
(Oberengadin)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.