Die Bettler von La Punt

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die wohnten in La Punt unten und wurden die Adamins genannt. Sie hatten zwei Söhne: Gian und Giachem. Gian, der jüngere, war ein schöner Bursche und gescheit, Giachem dagegen eher ein Dummkopf und ein Faulpelz, der nur arbeitete, was er gerade musste. Gian konnte mit seinen Händen alles Mögliche machen, etwa Kellen, Fallen, Gussformen für Blutzger und solche Sachen.

Kurz nachdem die Burschen erwachsen waren, starb zuerst der Vater an Lungenentzündung, darauf plötzlich die Mutter. Nach der Beerdigung sagte Gian zu Giachem: «Was wollen wir jetzt tun? Wir stecken bis zum Hals in den Schulden; ich für meinen Teil denke, das Beste wäre, wenn der eine das Tal hinauf, der andere hinunter ginge, um als Knechte zu arbeiten. Denn so geht es nicht weiter.» Giachem sagte: «Ich für meinen Teil plage mich nicht lange ab, finde ich keine Arbeit, so bettle ich von Haus zu Haus.»

Am andern Tag brachen beide Brüder auf: Giachem ging aufwärts und Gian abwärts. Und dies ein paar Tage lang. Gian nahm seine Kellen und Schöpfer unter den Arm, die Dinge eben, die er gemacht hatte, und verkaufte jeden Tag etwas. Wenn sie abends nach Hause kamen, hatte Gian immer ziemlich viel Geld, Giachem jedoch nur ein paar zusammengebettelte Blutzger. Eines Tages sagte Gian: «Es ist mir verleidet, jeden Tag abwärts zu gehen, wir wollen wechseln; ich gehe jetzt talaufwärts, wahrscheinlich bis ins Bergell hinüber.»

Tags darauf machte sich Gian frühmorgens auf den Weg, das Engadin hinauf bis nach Silvaplana, und am andern Tag gelangte er über den Maloja ins Bergell. Er ging immer weiter, und in Chiavenna kam er in ein Wirtshaus und verlangte zu essen und zu trinken. Der Wirt fragte ihn, ob er noch weiter ziehen wolle, und Gian sagte: «Ja, ich hätte Lust, Unteritalien zu sehen, ich habe schon so viel von diesem Land gehört.» Der Wirt meinte: «Ja, ja, das Land ist sicher schön, doch nehmt Euch nur vor den Leuten in Acht; Mörder hat’s wie Fliegen, und man hört fast jeden Tag von Raub und Mord; wenn ich Euch raten kann, so reist nachts nicht allein!»

Wie auch immer, anderntags brach Gian schon am Morgen auf, er ging den ganzen Tag und gelangte beim Einnachten in einen dichten Wald. Da begann es ihm ein wenig bang zu werden, als er daran dachte, wilde Tiere könnten kommen und ihn zerfleischen, oder er könnte gar verwunschenes Land betreten. Er ging weiter und kam zu einer Lichtung mitten im Wald, und mittendrin stand ein grosser Baum mit einer Bank rundherum. Todmüde, wie er war, legte sich der arme Gian auf die Bank, um einen Augenblick auszuruhen, doch es fiel ihm ein, dass sich da Gesindel herumtreiben könnte, und er beschloss, zuoberst auf den Baum zu klettern. Der Mond schien, es war taghell, und so sah er ein wenig weiter drüben ein Haus mit einer Mauer darum. Vor dem Tor war eine Bank, und es hatte einen grossen Hof mit einem Brunnen mittendrin. Gian bekam nun Lust nachzuschauen, ob das vielleicht ein Wirtshaus sei. Auf einmal sah er zwölf Männer aus dem Tor kommen, einer nach dem andern, und es schien ihm, dass alle Waffen trugen.

«Oh, helf mir Gott!» seufzte er, «das hier sind ganz sicher Räuber, und vielleicht noch die, von denen der Wirt erzählt hat.» Jetzt sah er die Männer immer näher kommen; da konnte er sich vor Angst kaum mehr auf dem Baum halten. Auf einmal standen alle zwölf unter dem Baum und setzten sich auf die Bank.

«Nun», begann der Hauptmann, «los, kommt her und berichtet, was ihr in diesen zwei Wochen gedeichselt habt, während wir durchs Land gezogen sind.» Da erzählten sie einer nach dem andern, was sie getan hatten. Einer sagte, er habe ein Haus in Brand gesteckt und alles gestohlen, was drin war; ein anderer sagte, er habe eine Frau ermordet und viele Goldstücke erwischt; ein anderer hatte ein Pferd gestohlen.

Der Hauptmann meinte: «Das ist alles schön und gut, aber was ich getan habe, hat keiner von euch fertig gebracht: In Mantua haben die Bewohner seit zehn Tagen keinen einzigen Tropfen Wasser mehr. Der König schickt ganze Kompanien aus, um die Wasserquelle zu finden, aber alles vergeblich! Die Leute springen herum wie die Verrückten, und das Vieh brüllt, es ist ein richtiges Durcheinander. Jetzt hat der König verkünden lassen, wer das Wasser wieder zum Fliessen bringe, erhalte entweder seine Tochter zur Frau oder die Hälfte seines Vermögens. Aber das Wasser kann niemand ausser mir wieder zum Fliessen bringen! Denn hört zu, was ich gemacht habe: Wenn man von hier dem Weg rechts entlang geht, so kommt man in einen dichten Wald; ein wenig weiter einwärts ist wieder ein schmaler Weg zur Linken, folgt man dem ein Stück, so sieht man einen grossen Baumstrunk. Unweit davon steht die Hütte eines Einsiedlers, der ist als halber Zauberer bekannt. Zu diesem Einsiedler bin ich gegangen. Er hackte eben Holz vor seiner Tür. Als er mich sah, wollte er sich aus dem Staub machen, aber ich ging hin und fragte ihn, wie man es anstellen müsse, damit das Wasser von Mantua wieder fliesse. Da der Alte nichts sagen wollte, nahm ich ihm die Axt aus der Hand, und als er sah, dass ich sie hob, bettelte er: «Lasst mich doch am Leben, lasst mich doch am Leben, dann will ich es sagen. Es braucht dazu nämlich diesen goldenen Stab. Ihr müsst jenen grossen Strunk aufheben, und darunter liegt eine Platte, und wenn ihr dreimal mit dem Stab darauf schlägt, so stellt sie sich auf, und das Wasser fliesst wieder.» Doch ich liess ihn nicht einfach so laufen, denn dieser alte Fuchs wusste noch mehr. Also sagte ich zu ihm: «Jetzt musst du mir noch erzählen, wo sich der Baum mit den grössten Äpfeln befindet, die dem, der sie isst, die Nase wachsen lassen, und wie man es anstellen muss, damit die Nase wieder klein wird!» - «O Erbarmen, Erbarmen», schrie der Alte, «wenn ich auch das noch ausbringen muss, so bin ich ein armer verzauberter Mann!» Jetzt packte ich ihn an seinem langen Bart und legte seinen Kopf auf den Scheitstock, da winselte er: «Wenn Ihr mich freilässt, so will ich es verraten.» Er zeigte mir den Baum und sagte. «Diese Äpfel lassen die Nase wachsen, und damit sie wieder kurz wird, muss man nach Wien in den Garten des Königs gehen: Unter der Säule des Brunnens wird man eine alte Schildkröte finden. Ihr Schild muss zu Pulver zerstossen und dann auf die Nase des Königs gestrichen werden.» Als der Einsiedler in seine Hütte wollte, versetzte ich ihm mit der Axt einen Schlag auf den Kopf, so dass er tot hinfiel. Jetzt nahm ich die Äpfel vom Baum, dann hob ich den Strunk auf und legte den goldenen Stab darunter. Nachdem ich mich noch einmal gut umgeschaut hatte, brach ich auf. Ich wanderte Tag und Nacht, bis ich nach Wien gelangte. Dort verkleidete ich mich als Bauer, nahm den Korb mit den Äpfeln und ging zum Palast hinauf. Die Soldaten wollten mich nicht eintreten lassen, aber ich zeigte ihnen die Äpfel, da riefen sie den Diener des Königs, und der ging sogleich mit den Äpfeln, um sie dem König zu zeigen. Der Diener kam bald mit dem leeren Korb zurück, zahlte mir alles, was ich verlangte und befahl, davon noch mehr zu bringen.

Ich machte mich augenblicklich aus dem Staub, zog mich um und noch am selben Tag nichts wie los. Ein paar Tage nach der Ankunft in Mantua wurde herumerzählt, der König von Österreich habe nach dem Genuss von Äpfeln eine ellenlange Nase bekommen, und der Palast sei voll von Doktoren, aber keiner wisse weiter, und jetzt habe der König verkünden lassen, er gebe jenem, der ihm helfen könne, seine Tochter zur Frau oder die Hälfte seines Vermögens!

Nun, was meint ihr jetzt? Bin ich nicht der Grösste von euch allen? Jetzt ist es aber Zeit für das Abendessen. Schaut ganz gut herum, ob nicht etwa einer hier in der Nähe ist, der uns zugehört hat.»

Dem armen Gian brach jetzt der kalte Schweiss aus; er konnte sich kaum mehr auf dem Baum halten, die Mörder sahen sich nämlich überall um, nur zum Baum hinaufzuschauen fiel ihnen nicht ein. Der Hauptmann marschierte jetzt der ganzen Bande voraus, und schon bald sah Gian sie in ihr Haus verschwinden. Der Mond schien nämlich so hell, dass er alles erkennen konnte. Jetzt stieg er vom Baum, und als er um sich blickte, sah er auf dem Boden etwas glänzen. «Oh, was habe ich für ein Glück», sagte er und hob ein Goldstück auf, das einer der Räuber verloren hatte.

Unser Gian liess jetzt kein Gras unter den Füssen wachsen und stieg so rasch, als die Beine ihn trugen, den Weg hinauf, von dem der Hauptmann gesprochen hatte, und bald einmal sah er einen gewaltigen Baumstrunk. Langsam hob er ihn auf und fand darunter den goldenen Stab. Rasch steckte er ihn in die Tasche und ging die Hütte des armen Einsiedlers suchen. Der Alte lag tot davor, und er begrub ihn. Danach aber machte er sich auf die Socken!

Er wanderte die ganze Nacht, und als der Morgen graute, sah er einen grossen Kirchturm und grosse Gebäude wie Paläste. Nach und nach kamen Bauern aufs Feld, und er begann mit einem zu reden und fragte ihn: «Sagt mir, guter Freund, wie heisst dieser Ort?» Der Mann antwortete ganz höflich auf Italienisch: «Das ist Mantua, die unglückliche Stadt.» - «Wenn ich nicht zu neugierig bin: Was ist denn dort passiert?» fragte jetzt Gian. «Gewiss etwas ganz Schlimmes! Sie haben dort seit zehn Tagen keinen einzigen Tropfen Wasser mehr, so dass Menschen und Tiere vor Durst schier umkommen.» Gian ging weiter, und in der Stadt ging er ins erste Wirtshaus neben der Strasse, und im Gespräch mit dem Wirt erkundigte er sich, wo er einen Stoffladen und eine gute Apotheke finden könne. Er kaufte sich zuerst von Kopf bis Fuss schöne Kleider, dann ging er in die Apotheke und liess sich ein schönes Kästchen für Kampfer, Öle, Riechfläschchen und solche Dinge geben.

Als er wieder im Wirtshaus war, fragte er den Wirt, wie weit man reisen müsse, um von Mantua nach Wien zu gelangen. Der Wirt meinte, er werde ungefähr einen Tag und eine Nacht brauchen; da sagte Gian, er habe vor, sogleich morgen bei Tagesanbruch wegzugehen.

Dem Wirt gefiel dieser Jüngling; er bat ihn zu warten, bis seine Stammgäste kämen. Gian blieb noch dort, um mit diesen Männern Bekanntschaft zu schliessen, denn er meinte, von ihnen vielleicht wichtige Dinge erfahren zu können. Aber das Gespräch des ganzen Abends drehte sich nur um die Wassernot, und alle sagten, dass die Quelle verzaubert war.

Tags darauf machte sich Gian auf den Weg. Müde und zerschlagen von der langen Reise kam er in Wien an. Im Wirtshaus, wo er abstieg, gab er sich als einen Doktor der Medizin aus, und der Wirt sagte, als er das hörte, leise zu seiner Frau: «Hier ist wieder ein Quacksalber, der damit aufschneidet, die Nase des Königs kürzer machen zu können.» Und - tatsächlich - noch an jenem Abend ging Gian zum Königspalast. Vor dem Tor fragte ihn ein Diener: «Was wollt Ihr?» Gian antwortete: «Ich bin hier, um die lange Nase des Königs kürzer zu machen.» Da wurde der Diener wütend und schrie: «Nein, und abermals nein, solche Doktoren sind täglich hier, und nicht einer hat den König heilen können, und jetzt hat er den strikten Befehl erteilt, niemanden hereinzulassen, sonst werde es den Kopf kosten!» - «Nun gut», meinte Gian, «wenn mein Mittel nicht hilft, gebe ich meinen Kopf als Pfand; es ist eine einfache Arznei, eine Salbe, die ich vor den Augen des Königs anrühre und dann auf seine lange Nase streiche.» Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, sagte der Diener: «Also gut, ich will den Schreiber rufen», und als der hörte, der König müsse keine Arzneien schlucken, sagte er: «Kommt mit mir!»

Im Zimmer des Königs befanden sich auch die alte Frau Königin und ihre Tochter, eine überaus schöne Prinzessin. Der König schien schlechter Laune zu sein, er schaute Gian kaum an; erst als der auf seine Frage antwortete, er müsse keine Arzneien schlucken, sagte der König: «Nun gut, ich werde noch diesen letzten Versuch machen.» Da bat Gian, in den Garten gehen zu dürfen, denn darin befinde sich ein Brunnen mit einer Säule, darunter müsse eine alte Schildkröte sein, die wolle er ausgraben. Den König wunderte dies sehr, und so gab er den Stallknechten sofort den Befehl, die Säule hochzuheben. Der Schreiber und der Diener standen daneben, unter der Säule lag tatsächlich die Schildkröte. Gian, glücklich und zufrieden, nahm die Schildkröte auf den Arm und brachte sie in die Vorratskammer des Königs. Dort in Anwesenheit des Königs, der Königin, der Prinzessin und der ganzen Dienerschaft zerstiess er den Schild des Tieres und vermischte das Pulver mit feinen Ölen, Kampfer, Kölnisch Wasser und andern guten Düften. Dann verlangte er ein feines Leinentüchlein, und das Fräulein Prinzessin brachte das Gewünschte. Gian strich die Salbe auf das Tüchlein und legte den Verband auf die Nase des Königs.

Dann hiess er ihn ins Bett gehen, verlangte eine alte Elle und mass in Anwesenheit der Königin und der Prinzessin seine Nase, die eine gute Elle lang war. Gian wachte selbst neben dem König, der die ganze Nacht wie ein Murmeltier schlief. Am Morgen liess Gian, sobald der König aufgewacht war, die alte Königin und die Prinzessin rufen, und vor denen löste er den Verband. Sogleich sahen sie, dass die Nase des Königs kürzer geworden war, und als sie diese massen, war sie nur noch eine halbe Elle lang. Jetzt gab der König Gian die Hand und sagte: «Ihr seid ein Doktor mit grossen Fähigkeiten, und Ihr, ja, seid es würdig, die Hälfte meines Vermögens zu bekommen.» Da warf Gian einen verliebten Blick auf die Königstochter, und die senkte die Augen.

Als der König Gian fragte, ob er glaube, dass er bis morgen früh seine grosse Nase los sei, antwortete Gian, so rasch könne das nicht geschehen, da er die Salbe nicht jeden Abend auftragen könne, aber er gebe ihm sein Ehrenwort, dass er in kurzer Zeit dieses Übel los sein werde. «Es tut mir sehr leid», sagte jetzt Gian, «dass ich noch heute abreisen muss; ganz wichtige Geschäfte rufen mich nach Mantua, doch spätestens in zwei Tagen werde ich wieder zurück sein.» - «Los», sagte jetzt der König zum Schreiber, «schaut, dass die doppelspännige Kutsche parat steht und der Doktor nach Mantua geführt wird.» Als sich Gian vom König verabschiedete, gab der ihm eine Börse voll Geld. Die Königin und die Prinzessin begleiteten ihn bis zum Tor und baten ihn, sobald als möglich zurückzukommen.

Nach der Ankunft in Mantua steckte Gian dem Kutscher ein schönes Trinkgeld zu und liess ihn zurückkehren. In der Herberge, wo er einkehrte, waren viele Leute, und es herrschte ein grosses Durcheinander und Geschrei. Alles klagte über den Wassermangel, und man ratschlagte hin und her, was zu tun wäre, um diese Not zu beenden. Gian beteiligte sich auch an diesem Gespräch, ging aber bald auf sein Zimmer, um zu schlafen.

Tags darauf begab er sich zum Königspalast, einem grossen, schönen Gebäude, aber es war ringsherum von Wachen umstellt. Gian fragte einen, ob es möglich wäre, mit dem König zu sprechen. Da riefen alle diese Männer zusammen: «Aha! Hier ist wieder einer von denen, der das Wasser zum Fliessen bringen und den König betrügen will!» Aber unser Gian liess sich nicht einschüchtern und sagte: «Ich will zum König, und wenn ihr mich nicht hineinlässt, so schlage ich Krach!» Jetzt kam der Schreiber und fragte, was jener Mann wolle und warum er so laut schreie. Gian ging zu ihm hin und sagte: «Herr Schreiber: reden ist erlaubt, und antworten ist höflich. Ich bin’s, der das Wasser zum Fliessen bringen kann.» - «Also gut», meinte der Schreiber, «so kommt mit mir.» Da gingen sie hin. Als der König merkte, dass dieser Bursche sich wie ein Edelmann benahm und grosse Kräfte zu haben schien, versprach er ihm auf dessen Wunsch schriftlich die Hälfte seines Vermögens, wenn er das Wasser zum Fliessen bringen könne. Gian hätte die Tochter des Königs auf keinen Fall genommen, vor allem, weil sie auf einem Auge schielte und älter als dreissig schien.

Gian war mit dem Schreiben des Königs zufrieden, da bat er ihn um eine Kompanie Soldaten und versprach ihm noch vor dem Abmarsch, die Räuberbande, die sein ganzes Land unsicher machte, festzunehmen. «Dann», sagte der König, «wenn du diese Schufte erwischt hast, verspreche ich dir noch eine zweispännige Kutsche, zusätzlich zum andern Lohn.»

Jetzt machte sich Gian mit den Soldaten auf den Weg Er kannte die Gegend noch gut; doch als sie in jenes Tal gingen, murrten ein paar und sagten: «Der lässt uns für nichts und wieder nichts herumrennen.» Doch Gian gab keine Antwort und drang immer weiter in den Wald vor bis dort, wo er am dichtesten war. Da sieht er den Strunk, im Handumdrehen steht er daneben und klopft dreimal mit dem goldenen Stab auf die Platte, so dass die sich geradeauf stellt. In dem Augenblick gab es eine solche Erschütterung, dass das ganze Tal erbebte, und die Soldaten mussten sich beeilen, um rechtzeitig davonzukommen. Denn das Wasser donnerte mit schrecklicher Wucht herunter, und auf ein Mal schoss es in die Stadt, so dass viele Frauen, die neben dem Fluss auf das Wasser warteten, ertranken. In der Zeit, während die Leute und das Vieh Wasser tranken, war Gian schon oben auf der Ebene beim Baum der Räuber, wo er die schrecklichste Nacht seines Lebens verbracht hatte. Er stieg auf den Baum und sah, dass ein paar Männer unten vor der Tür des Räuberhauses sassen. Sofort brach er mit den Soldaten auf, und als sie vor dem Haus standen, liess er dieses mit der einen Hälfte der Truppe umstellen; die andern gingen hinein und nahmen die ganze Bande fest. Gian gab Weisung, dort zu bleiben, und wenn sich der eine oder der andere rühren sollte, ihn einfach zu erschiessen. Noch in jener Nacht machte sich Gian auf den Weg und marschierte die ganze Nacht hindurch, so dass er mehr tot als lebendig in Mantua ankam.

Da gab es ein grosses Freudenfest, und der König und die Prinzessin waren ganz freundlich und freigebig zu ihm und wollten, dass er noch ein paar Tage bleibe. Doch Gian sagte, er müsse noch heute abreisen. Als der König erfuhr, dass die Räuberbande in Haft war, da war er mehr als zufrieden, und auf seine Frage, was Gian lieber wolle, die Hälfte des Vermögens oder die Tochter, bat Gian ihn um das Vermögen. Nachdem ihm das Geld vom Schreiber ausbezahlt worden war, gab ihm der König eine schöne Kutsche und liess die Pferde anschirren. Dann reiste Gian ab.

Jetzt lassen wir das beiseite und kehren nach Wien zum König mit der langen Nase zurück. Die drei Tage waren nun vorbei, doch der Doktor noch nicht zurück. Der König wurde von Tag zu Tag unwilliger, er plagte Tag und Nacht die alte Königin und die Prinzessin und murrte: «Ihr werdet sehen: dieser Arzt ist ein Quacksalber genau wie alle andern; dieser Lump hat mein Geld genommen und lässt mich mit der langen Nase zurück!» Der Tochter gab dies einen Stich ins Herz, und sie ging schier drauf vor Angst, Gian werde nicht zurückkommen.

Da, eines Tages, als die Königin und die Prinzessin am Fenster standen, sahen sie eine schöne zweispännige Kutsche heranfahren und neben dem Palast halten; und dann sprang ein schöner als Edelmann gekleideter Herr heraus. Die Prinzessin erkannte Gian sofort und eilte ihm entgegen, und alle freuten sich sehr. Gian verlangte nun, in die Vorratskammer zu gehen, um die Salbe für den König anzurühren. Nachdem die Salbe auf der Nase war, schlief der König die ganze Nacht. Am Morgen beim Aufwachen war die Salbe weg und die Nase so gross wie früher.

Jetzt fragte der König den Gian, welchen Lohn er wünsche, und Gian sagte, er empfinde echte Liebe für das Fräulein Tochter, und Vermögen besitze er genug, um eine Frau zu ernähren. Er begann nun, seine ganze Lebensgeschichte zu erzählen und sagte auch, sein Bruder sei noch in La Punt. Jetzt wandte sich Gian der schönen Prinzessin zu und fragte sie, ob sie sich entschliessen könne, ihm ihre Hand zu reichen und seine Frau zu werden. Die Prinzessin warf sich dem König in die Arme, und der legte den beiden die Hände zusammen und segnete sie. Gian bat nun um Erlaubnis, ins Engadin zu reisen, um seinen Bruder zu sehen, und er versprach, so rasch als möglich zurückzukommen. So verreiste er wenige Tage später, und diesmal war seine Reise kürzer, denn er fuhr im Wagen.

Er kam an einem Freitagnachmittag in La Punt an, als eben alle Kirchenglocken zusammen läuteten. Jetzt fragte er eine Frau, was das für eine Beerdigung sei, und sie sagte: «Das ist nur Giachem Adamin, der trank so viel Schnaps, dass er verbrennen musste.» Gian blieb über Nacht in La Punt und zahlte dem Wirt alle Kosten für die Beerdigung sowie die Schulden seines Bruders. In wenigen Tagen war er wieder in Wien. Dort gab es ein Festessen nach dem anderen, und kurze Zeit später eine prächtige Hochzeit. Die Bewohner wurden eingeladen, aus jedem Haus einer, und sie hatten ein wunderschönes Leben und sind noch dort. Und das Märchen ist zu Ende.

(Oberengadin)

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.  Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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