Das Mädchen ohne Arme

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal ein Müller, der hatte drei Töchter nämlich Mengia, Marioschla und Maroia. Die zwei älteren kleideten sich wie Damen und zwangen den Müller, recht viel Mehl von den Bauern abzuzweigen; denn sie wollten dieses für sich verschwenden. Nun gut, die ganze Familie geriet ins Elend, denn die Leute gaben nichts mehr zum Mahlen.

Eines Tages ging der Müller mit hängendem Kopf durch den Wald und begegnete mittendrin einem grün gekleideten Herrn. Der fragte, was ihm fehle. Der Müller antwortete, er und die Seinen hätten nichts zu beissen. Das sagte der Herr in Grün: «Wenn du mir das gibst, was hinter deiner Haustür steht, so bringe ich diese Nacht ein Fass voll Geld.» Der Müller versprach dies, denn er dachte, es wären nur alte Besen, und ging nach Hause. Maroia sah den Vater durch den Wald kommen und versteckte sich hinter der Tür, um ihn zu erschrecken. Als der Vater durch die Tür kam, sprang sie hervor und packte ihn an den Beinen. Jetzt erst wusste der Vater, dass der Herr der Teufel war und was er für das Fass hergeben musste.

Um Mitternacht hörte er es an die Tür klopfen. Er befahl Maroia, aufzustehen und zu öffnen; es sei einer, der mit einem Sack Korn komme. Maroia hatte noch nie nachts aufstehen müssen, aber sie war ein gutes Kind und gehorchte dem Vater. Sie nahm Weihwasser, öffnete die Tür, sah aber niemanden. Sie erzählte dies dem Vater und der befahl: «Nun, dann geh schlafen!» Jetzt sagte der Müller zu seiner Frau: «Wer weiss, ob er mit dem Fass wieder fortgegangen ist?» Die Frau meinte, ein wenig Geld hätte er wohl zurückgelassen. Kurz und gut, sie getrauten sich nicht, nach dem Fass zu schauen, bevor es hell wurde.

Am andern Morgen stand das Fass draussen vor dem Haus, bis zuoberst mit Geld gefüllt, und der Teufel wartete daneben. Er wollte es mitnehmen, aber der Müller bestand darauf, ein wenig Geld nehmen zu dürfen, unter der Bedingung, das Weihwasser vor Maroia zu verstecken, wenn er das nächste Mal komme. Gegen Mitternacht klopfte es wieder. Der Müller hiess Maroia wieder aufzustehen. Sie wollte Weihwasser nehmen und fand das Becken nicht. So ging sie dann hinaus in die Küche, wusch sich, bekreuzigte sich mit Wasser und öffnete die Haustür. Aber da war niemand, so dass der Vater Maroia verbot, schlafen zu gehen. Diesmal glaubte er ganz sicher, dass der Teufel das Fass und alles mitgenommen hatte. Aber das Fass stand am andern Morgen noch vor dem Haus und der Teufel daneben. Der wollte unbedingt das Geld mitnehmen, aber schliesslich durften sie noch etwas herausnehmen, unter der Bedingung, in der nächsten Nacht kein Weihwasser im Haus zu lassen. Die Nacht darauf kam er wieder und klopfte. Maroia stand auf Befehl des Vaters auf, ging in die Küche, fand aber kein Wasser. Nachdem sie sich lange herumgetastet hatte, fand sie etwas Spülwasser in einem Kessel. Sie wusch sich damit, bekreuzigte sich, öffnete die Tür und sah niemanden. Am nächsten Morgen stand der Teufel neben dem Fass und wollte es mitnehmen Doch der Müller versprach wieder zu tun, was der Teufel wolle, wenn er nur das Geld da lasse. Jetzt befahl der Teufel dem Müller: «Nimm Maroia und geh mit ihr im Wald Holz hacken; nimm eine Axt mit, eine Säge und einen Bundhaken. Dann kommt ihr zu einer gefällten Fichte; diese müsst ihr aussägen. Während ihr sägt will ich unter dem Stamm stehen und ihn hin und her bewegen. Dann musst du der Tochter befehlen, den Bundhaken zu halten, und du tust so, als wolltest du mit dem Kopf der Axt auf den Bundhaken schlagen Aber du kehrst schnell die Axt um und haust Maroia beide Arme ab.» Das liess den Vater doch ein wenig erschaudern. Aber es war so viel Geld in jenem Fass drin, so dass er sagte, er wolle das tun.

Der Müller machte alles so, wie es der Teufel befohlen hatte. Nachdem er Maroia die Arme abgehauen hatte, nahm er Holzabfälle, legte diese auf die Tochter und ging nach Hause, um sein Geld zu zählen.

Im Wald jagte ein Prinz mit seinen Hunden. Da rannten die Hunde zu Maroia und begannen zu bellen. Der Prinz ahnte Ungutes, und er rief mit dem Jagdhorn seine Gefährten zu sich. Die kamen sogleich mit einem schönen Mädchen, ohne Arme und blutüberströmt. Sie stillten das Blut und gingen dann mit dem Mädchen nach Hause auf das Schloss des Prinzen.

Die Töchter des Müllers meinten, mit so viel Geld sei es unpassend, in einer Mühle zu wohnen, liessen den Vater ein schönes Wirtshaus an der Strasse kaufen und lebten dort ganz vergnügt.

Eines Tages liess der König, der Vater des Prinzen, der das Mädchen ohne Arme ins Schloss genommen hatte, seinen Sohn rufen und sagte ihm, es sei Zeit, eine Frau zu suchen. Der Sohn antwortete: «Mit der, die ich will, seid Ihr nicht einverstanden, doch eine andere will ich nicht.» Nun, für diesen Tag liessen sie es dabei bewenden. Noch zweimal stellte der König die gleiche Frage und er bekam die gleiche Antwort. Beim dritten Mal sagte der König: «Heiraten musst du. Nimm die, welche du willst; ich bin damit einverstanden.» Darauf führte der Prinz das schöne Mädchen ohne Arme herbei und sagte, er wolle die und keine andere. Der König konnte nicht anders, als einverstanden zu sein. Bald war fröhliche Hochzeit.

Da erklärte ein anderer König den Krieg; der Vater, der König, übergab seine Truppen dem Prinzen und schickte ihn an seiner Stelle in den Krieg. Beim Abschiednehmen sagte der Prinz zu seinem Vater, er solle seine Frau gut behandeln und zog dann in den Krieg. Während des Krieges gebar Maroia zwei Prinzen, Son und Satgen. Der königliche Grossvater und die Königin freuten sich riesig, dass sie auf einmal zwei muntere Prinzen hatten. Der König schickte einen Boten mit der frohen Nachricht zu seinem Sohn, der im Krieg war.

Der Bote kam spätabends in das Wirtshaus des Müllers, ass zu Abend, und dann wollte er seinen Mantel nehmen, um sich schlafen zu legen. Doch Mengia ahnte etwas und sagte, er solle den Mantel nur am Nagel in der Stube hängen lassen wie die andern auch. Nachts durchsuchte Mengia die Manteltaschen, fand den Brief, den der König seinem Sohn geschrieben hatte, und öffnete ihn. Beim Lesen merkte Mengia sogleich, dass der Brief von ihrer Schwester Maroia handelte. Es gefiel ihr nicht, dass ihre Schwester die Frau eines Prinzen war, und voller Neid legte sie sich ins Zeug und schrieb einen Brief an den Prinzen mit allerlei Schlechtigkeiten über Maroia. Unter anderem, dass die einen Hund und Katze geboren habe. Dann legte sie diesen Brief an Stelle des andern in den Mantel. Der Bote ahnte nicht Schlechtes und brachte den Brief dem Prinzen. Der nickte mit dem Kopf, während er las und schrieb auch einen Brief an seinen Vater mit dem strengen Befehl seine Frau gut zu behandeln, auch nachdem sie Katzen und Hunde geboren habe. Mit diesem Brief liess er den Boten nach Hause zurückkehren. Der übernachtete wieder im selben Wirtshaus. Mengia las wieder den Brief, und da sie sah, dass all ihre Lügen den Prinzen nicht hatten erzürnen können, schrieb sie einen Brief an den König und erliess darin den Befehl, sie sollten schauen, dass sie Maroia mit ihren Kindern aus dem Weg räumten, bis er zurückkehre. Als der König das las, war er ganz verwundert und sagte: «Mein Sohn ist aus der Gnade Gottes gefallen, mein Sohn ist aus der Gnade gefallen.» Jetzt kam die Königin und las. Der wurde schlecht, und sie fiel in Ohnmacht. Maroia spürte sofort, dass alles trauriger war im Schloss; sie ahnte nichts Gutes und fragte den König und die Königin, was mit dem Prinzen geschehen sei, aber sie antworteten nicht. Da sagte Maroia, wenn der Prinz etwas wegen ihr angeordnet habe, so sollten sie es ja ausführen, damit sie nachher keinen Ärger mit ihm hätten. Der Prinz habe sie vor dem Tod gerettet, darum könne er ihr auch das Leben nehmen, wann er wolle.

Eines Tages kam ein Brief vom Prinzen, er habe den Krieg gewonnen und sei auf den und den Tag zu Hause. Jetzt wurde dem König und der Königin immer schlechter zumute. Sie liessen Maroia rufen und erzählten ihr, was der Prinz geschrieben habe. Maroia gab den Auftrag man solle den Befehl schnell ausführen. Zwei Henker ergriffen sie und ihre Kinder und gingen in den Wald hinaus, um alle drei zu töten. Da bat Maroia, sie sollten sie doch mit ihren Kindern am Leben lassen, sie wolle sich nie vor andern Menschen zeigen. Es sei ihr gleich zu sterben, aber sie bitte um ihr Leben wegen der Kinder. Die Henker waren damit einverstanden, nahmen ein Seil, banden die zwei Kinder Maroia auf den Rücken, und sie ging weiter. Sie suchte eine Bleibe und fand keine bis abends spät. Dann kam sie zu einer Quelle mit gutem Wasser. Sie wollte Wasser trinken. Aber jedes Mal, wenn sie sich vornüber beugte, rutschte ihr das eine oder andere Kind vom Rücken, so dass es ihr nicht gelang, den Durst zu löschen. Da sah sie neben der Quelle eine Frau und bat diese, doch die Kinder loszubinden, damit sie Wasser trinken könne. Das tat die Frau, und dann wies sie Maroia an: «Tauche, bevor du trinkst, einen Armstumpf ins Wasser, um dich nicht zu erkälten. Du könntest krank werden, wenn du so gierig trinkst.» Maroia gehorchte, und als sie den Stumpf herauszog, hatte sie ihren schönen Arm wieder. Auf Befehl der Frau tauchte sie auch den andern Stumpf ins Wasser, und sie erhielt auch den andern schönen Arm zurück.

Maroia fragte, was sie für eine gute Frau sei. Die Frau antwortete: «Ich bin die Jungfrau Maria; schau, da drüben ist ein Haus; hier kannst du wohnen, und was du dir wünschst, wird dort sein. Aber du darfst niemanden zum Übernachten einlassen, der nicht um Gottes, der Jungfrau Maria, des Heilands und des heiligen Josephs willen bittet.»

Maroia ging mit den Kindern in jenes Haus. Sie dachte, sie möchte dieses und jenes zu essen, und auf einmal war es da. Am Abend wünschte sie sich ein Bett und dieses erschien. Dann wurde es ihr langweilig weil sie nichts zu arbeiten hatte, und sie wünschte ein Spinnrad zum Spinnen, und es war da.

Zwei Tage später kehrte der Prinz nach Hause zurück, und seine erste Frage war: «Was macht Maroia?» Der König meinte, er könne schon nach ihr fragen, wo er doch geschrieben habe, sie sei samt den Kindern aus dem Weg zu räumen. Man zeigte ihm den Brief, und der Prinz zeigte den seinen, und da sahen sie, dass die Briefe gefälscht worden waren. Der Prinz sagte: «Um Gottes willen! Ich werde so weit und so lange gehen, bis ich meine Maroia oder wenigstens einen Knochen von ihr finde.»

Er streifte sieben Jahre und sieben Tage durch den Wald, wo man Maroia und die Kinder hinausgeführt hatte. Dann kam er eines Abends vor das Häuschen seiner Frau. Er klopfte an. Maroia schaute heraus und fragte, was er wolle. Der Prinz antwortete: «Ich bitte, lasst mich um Gottes willen eintreten und übernachten.» Maroia erkannte seine Stimme, liess ihn aber nicht herein, solange er nicht gesagt hatte: «Um Gottes, der Jungfrau Maria, des Heilands und des heiligen Josephs willen.» Sie fragte ihn dann, was er zum Essen wolle. Er solle nur sagen, sie könne ihm geben, was es auch sei. Er antwortete, er sei nicht würdig, es anzunehmen, doch Milch und Brot könne sie geben, er sei den ganzen Tag so weit gegangen. Maroia geht in die Küche und denkt: «Milch und Brot», und im Hui war es da. Nach dem Nachtessen sagte Maroia, er solle zu Bett gehen. Aber er antwortete, er sei nicht würdig, in einem Bett zu schlafen, in ein Bett lege er sich nicht. Schliesslich brachte Maroia ihn dazu, sich auf die Truhe zu legen, und gab ihm ein Kissen. Sie begann, nebenan zu spinnen und mit ihren zwei Buben zu plaudern. Mit der Zeit liess der Prinz ein Bein neben der Truhe herunterhängen Ganz leise sagte Maroia zu Son: «Geh hin, und hebe deinem Vater das Bein auf die Truhe.» - «Ist das mein Vater?» - «Ja, sei still!», antwortete die Mutter und deutete Son mit dem Finger, er solle schweigen. Son ging hin und hob das Bein auf. Nach einer Weile liess der Prinz das andere Bein neben der Truhe herunterhängen. Wieder sagte Maroia die gleichen Worte. Son ging hin und wollte das Bein aufheben, aber der Prinz hielt jenes so steif, dass Son allein es nicht vermochte. Da befahl Maroia: «Geh hin, Satgen, und hilf Son, das Bein des Vaters auf die Truhe zu heben.» - «Ist das mein Vater?» fragte Satgen. «Ja, aber sei still!» antwortete die Mutter. Beide zusammen kamen dann mit dem Bein zurecht. Der Prinz stellte sich noch eine Weile lang schlafend, war er doch immer wach gewesen. Langsam stand er auf, rieb sich die verschlafenen Augen und begann zu sprechen, er habe Dinge gesehen und gehört, die nicht möglich seien. Maroia meinte, bei Gott sei nichts unmöglich. Auf das hin fiel der Prinz seiner Frau um den Hals. Sie umarmten sich und brachten vor lauter Freude kein Wort hervor. Der Prinz hatte Maroia so lange nicht erkannt, weil sie jetzt Arme hatte.

Sie blieben dann noch ein paar Tage in jenem Häuschen, und dann sagte der Prinz zu seiner Frau, ob sie dieses Haus verlassen und ins Schloss zurückgehen wolle, um zu schauen, ob seine Eltern noch am Leben seien. «Aber sicher», antwortete Maroia. Es stehe ihr frei, hier zu bleiben, so lange sie wolle, und zu gehen, wann sie wolle.

Sie packten ihre Kleider zusammen und traten aus dem Haus. Da liess Maroia alle niederknien und für das empfangene Wohl danken. Als sie sich erhoben, war das Häuschen verschwunden. Sie gingen fort und kamen zum Schloss. Der König und die Königin waren zwar noch am Leben, aber ganz weiss und alt vor Trauer und Sehnsucht nach ihren Kindern. Sie freuten sich riesig, sie zu sehen, und machten ein grösseres Fest als an der Hochzeit.

Jetzt liess der Prinz jenen Boten rufen, der schuld war, dass die Briefe auf so durchtriebene Art und Weise hatten gefälscht werden können, und fragte ihn, wo er auf der Reise übernachtet hätte. Nun, antwortete der Bote, in dem und dem Wirtshaus neben der Strasse. Der Prinz ging mit vielen Soldaten dorthin und liess das ganze Gebäude durchsuchen. Da kamen die richtigen Briefe zum Vorschein, die Mengia trotz ihrer Verschlagenheit nicht zerrissen hatte. Jetzt fällte der Prinz das Urteil, dass alle vier, der Müller, die Müllerin und die zwei Töchter mit Pferden in Stücke gerissen werden sollten. Jemand band einen Braunen an einen Arm, jemand einen Roten an ein Bein, jemand einen Grauen an den Kopf, und hopp hopp wurden so alle zerrissen.

(Oberhalbstein)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.  

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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