Ein wohlhabender Bauer war mit seinen dreissig Kühen zu Berg ins Vorsäss gefahren. Während er mit dem umgeschnallten Melkstuhl und dem Eimer in der Hand eben aus der Scheune trat, sah er ein Männlein auf sich zukommen. Es hatte einen langen, schneeweisen Bart und ein uraltes Gesicht. Auf dem Kopf trug es ein Lederkäppchen, an der Achsel ein Täschchen mit Viehsalz. Verwundert blieb der Bauer auf dem Weg stehen. Der Zwerg grüsste freundlich, indem er das Käppchen hob. Dann bat er in den eindringlichsten Tönen, der Bauer möge ihm doch für den Sommer eine Kuh zum Lehen geben. Zuerst schüttelte der Mann den Kopf, denn er traute der Sache nicht. Als aber das Männlein nicht nachliess mit Betteln, fiel ihm ein, er habe noch ein mageres Kühlein, ein rechtes Blag, das schon die ganze Zeit herumserbelte. Um dieses Tier sei es nicht schade, auch wenn er es nicht mehr zu sehen bekomme. Bloss die Glocke wollte er ihm vorher abnehmen, da sie ihn reute. Doch erneut flehte das Männchen, ihm doch die Kuh samt der Schelle zu lassen. "Am Michaelstag sollst du alles zurückerhalten mit samt dem Lehenzins", versprach es. Da willigte der Bauer ein, und bald sah er den wunderlichen Zwerg mit seiner Lehenkuh davonziehen. Immer ferner läutete die Glocke an sein Ohr, und er dachte: Euch sehe ich wohl nicht wieder! Nachdem beide im Bergwald verschwunden waren, fing er das andrängende Vieh zu melken an.
Als er eines Morgens vor seine Tür trat und nach dem Wetter ausschaute erblickte er weit oben am Berg sein Kühlein, wie es zwischen den Tannen weidete. Nun glaubte er es völlig verloren, denn dort, wo sonst nur die Gemsen heimisch waren, würde es gewiss bald abstürzen. Ein paar Tage später fuhr er mit der Herde zur Hochalp weiter und vergass den ganzen Handel. Doch ging es ihm diesen ganzen Sommer durch merkwürdig gut. Sein Vieh gedieh, wurde rund und glänzend, während die Nachbarn über allerhand Seuchen zu klagen hatten.
Allmählich wurde es Herbst, und der Bauer kehrte ins Vorsäss zurück. Am Michaelstag sass er vor seiner Hütte und genoss den milden Sonnenglanz. Da hörte er eine Kuhschelle mit heiterem Klang läuten. Und wie er sich neugierig umblickte, sah er das Männlein mit dem schneeweisen Bart daherkommen. An der Hand führte es eine Kuh, die glänzte wie die Seide am Zapfen. "Da bringe ich das Stück Vieh wieder, das du mir zum Lehen gegeben hast", sprach der Zwerg. "Nun sage auch, wieviel Zins ich dir schulde!"
Dem Bauern fielen vor Staunen fast die Augen aus dem Kopf. Er konnte gar nicht glauben, dass diese glatte Kuh mit dem strotzenden Euter das magere Blag sein sollte, das er dem Männlein in Pacht gegeben hatte. Endlich erholte er sich und sagte, dass er überhaupt keinen Zins begehre. "Komm nur im Frühjahr wieder, ich will dir gern nochmals eine Kuh zur Sömmerung überlassen!"
Doch das Männlein sagte, es habe nun für sein ganzes Leben Milch und Butter im Überfluss. Dann reichte es dem Bauern ein Bratkäslein, mahnte aber, das solle er nie ganz aufessen, dann werde er immer wieder Käse haben. Der Bauer lachte und schüttelte ungläubig den Kopf. "Thio und liog!" rief das Männlein, und das bedeutete: Tu wie gesagt und du wirst schon sehen! Dann eilte es im Husch weg und verschwand in seinem Bergwald.
Am Abend kostete der Bauer von dem seltsamen Käslein, er gab auch seiner Frau davon, und beide fanden, es sei daran ein ganz besonders feiner Geschmack. Sie versorgten, was übrigblieb, und siehe da, am nächsten Morgen war es wieder ganz wie zuvor. Nun hüteten sie es wie ein Kleinod, aber ohne zu geizen, da sie oft auch die Nachbarn zum Imbiss einluden. Zwei Jahre genossen sie so, was das Männlein zum Lehenzins gebracht hatte. Aber eines Tages erschienen gleichzeitig der Schneider und Schuster zur Stör. Ohne dass der Bauer es bemerkte, assen die beiden das Käslein bis zum letzten Brocken auf. So sehr sie nachher auch ausgescholten wurden, war die schöne Gabe verscherzt und verloren.
Nach Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915, Region Obwalden bei Giswil - siehe auch die Sage "Der Lehenzins"
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.