Der Vogel der die Wahrheit sagt

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Eines Morgens hat ein Müller auf dem Mühlrad eine grosse und schwere Kiste gefunden. Er hat diese Kiste schnell genommen und geöffnet und hat darin drei Kinder gefunden, wie Wein und Milch, mit einem goldenen Stern auf der Stirn, zwei Knaben und ein Mädchen. Ganz verwundert hat unser Müller die Kleinen seiner Frau gebracht, und weil sie keine Kinder hatten, haben sie diese wie eigene Kinder aufgezogen.

Als die Kinder er­wachsen waren, ist der Müller mit der Wahrheit herausgerückt und hat gesagt, sie seien nicht seine Kinder und er wisse nicht, woher sie kä­men. Und nun drangen die Jungen immer wieder in den Müller, er solle sa­gen, wer ihnen wohl eröffnen könne, woher sie kämen. Nach langem Bitten sagt der Müller: „Das weiss der Vogel, der die Wahr­heit sagt und der ir­gendwo auf einem Schloss ist.“

Nun war der jüngste der Knaben nicht mehr zu Hause zu halten. Am an­dern Tag ist er auf das schwarze Pferd des Müllers gestiegen, um den Vo­gel zu suchen, der die Wahrheit sagt. Es sind indessen viele Tage verstri­chen, und der Junge kehrte nicht zurück. Im andern Frühling ist der ältere Bruder gegangen, um den Vogel, der die Wahrheit sagt, und den Bruder zu suchen. Auch er ist nicht zurückgekehrt. Da mochte die Schwester, die Amalia hiess, nicht mehr in der Mühle blei­ben. Sie hat das weisse Pferd des Müllers genommen und ist in die Welt hinaus, um den Vogel, der die Wahrheit sagt, und die beiden verlorenen Brüder zu suchen. Der Müller und die Müllerin haben geweint, so dass sie ganz rote Augen hatten, als Amalia wegging, denn sie war schön und gut, wie ein Engel.

Mutig ist das Mädchen durch einen weiten dunklen Wald geritten, bis es ein altes Mütterchen getroffen hat, und das sagt zu ihm: „Ich weiss schon, du willst den Vogel, der die Wahrheit sagt, und die beiden Brüder suchen. Wenn du alles bekommen willst, dann schau bloss nie hinter dich, möge geschehen, was auch immer!“

Dankend hat das Mädchen versprochen, den Rat nicht zu vergessen und ist weitergeritten. Neben einem dun­klen und tiefen See hat sie einen hohen und steilen Berg entdeckt, auf dessen Spitze ein grosses, schönes Schloss stand. So schnell sie konnte, ist sie vom Pferd gesprungen, hat einen Stab genommen und hat begonnen, den Berg hinaufzusteigen. Immerzu hörte sie hinter sich rufen: „Amalia! Amalia!“ Und es machte einen grossen Lärm. Amalia aber schaute nie zurück und schritt frisch voran. Schliesslich ist sie zu einem schönen Schloss aus grünem Marmor gekommen, mit ho­hen Türmen und goldenen Dächern. Vor dem Tor aber war ein schreckli­cher Waldmensch mit einer Tanne in der Hand; er bewachte den Eingang und liess niemanden eintreten. Amalia aber ist, flink wie ein Wiesel, dem Waldmenschen zwischen den Beinen durchgeschlüpft und ins Schloss ge­kommen. Da waren überall Zimmer mit Gold, Silber und Edelsteinen. Im schönsten Zimmer war eine Menge Käfige mit allerlei Vögeln, roten, weis­sen, gelben, grünen, schwarzbraunen, kurz von allen Farben. Als das Mädchen in jenes Zimmer gekommen ist, rief jeder: „Ich bin der Vogel, der die Wahrheit sagt, nimm mich!“

Nur in einer Ecke sass ein kleines Vöglein, das nichts sagte. Dieses hat Amalia genommen. Der graue Vogel hat sich sehr gefreut und gesagt: „Ich durfte nicht sagen, dass ich der Vo­gel bin, der die Wahrheit sagt, aber du hast trotzdem den richtigen gefun­den! Du musst in jenen Rosengarten ge­hen und jene Rute nehmen neben der klaren Quelle inmitten des Gartens. Mit dieser Rute berührst du alle Steine, die wir sehen, wenn wir den Berg hinuntersteigen!“

Das Mädchen hat die Rute aus dem Garten genommen und hat sich mit dem Vogel auf den Weg den Berg hinunter gemacht. Jeder Stein, den sie mit der Rute berührte, verwandelte sich in einen Ritter oder in eine Jung­frau. Die beiden Brüder Amalias sind ebenfalls aus zwei Steinen hervorge­kommen und haben mit Tränen auf den Wangen die gute Schwester um­armt. Der Vogel aber hat gesungen, sie seien Königskinder, und ihr Oheim habe, während der Vater im Krieg war, sie in eine Kiste gelegt und vom Wasser forttragen lassen. Und dem König habe er gesagt, die Köni­gin habe kleine Kätzchen geboren.

Voller Wut auf den bösen Onkel sind die Brüder in Begleitung vieler Ritter und Jungfrauen in die Stadt des Königs gezogen, und dort hat der Vogel dem König die Geschichte der Kinder erzählt. Närrisch vor Freude hat dieser seine Kinder umarmt und hat die Mutter aus dem Gefängnis zum Festmahl kommen lassen. Der Schurke von einem Onkel aber wurde von vier Pferden in vier Stücke gerissen. Amalia ist eine feine und zarte Köni­gin geworden, ihre Brüder mutige und gute Könige. Das ist die Geschichte vom Vogel, der die Wahrheit sagt!

 

Quelle: Schweizer Volksmärchen, Diederichs Verlag 1990

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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