Ein Berner-Oberländer hatte all zu früh schon sich um sein Lieseli umgeschaut, konnte sie nicht gleich zum Weibe bekommen und tat nun sterbensverliebt und todesbetrübt.
Um sich ein wenig zu zerstreuen, lief er zu Berg nach den Kühen auf der Weide. Als er bis zum Brunnen auf der untern Staffel gestiegen war, sah er neben der Fluh einen altrostigen Schlüssel liegen. Im Felsen gewahrt er auch bald ein Schlüsselloch, steckt an und dreht, die Wand öffnet sich und läßt ihn durch den Felsgang der Reihe nach in zwei große Gemächer. Im zweiten versperrt ein herabhängender Stein den Weg, doch mit Not kann man drunter wegkriechen. Da dies getan ist, erhebt sich eine Stimme: „Unglückseeliger, vollende dein Vorhaben, geh auch ins dritte Gemach!" Er tut's und schreitet in einen neuen Saal hinein. Hier sitzt eine Jungfrau, altertümlich gekleidet, einen Hafen voll Gold zu Füßen, neben sich an der Wand eine goldene Glocke. Sie sei hier auf so lange verwünscht, sagt sie ihm, bis ein Erlöser komme, nun habe er die freie Wahl zwischen drei Gaben.
Entweder könne er diese Glocke, oder diesen Goldhasen mit sich nehmen, wähle er aber sie selbst, so bekomme er die zwei andern Schätze mit drein. Der Bursche denkt einen Augenblick an sein Lieseli und schwankt, zuletzt nimmt er die goldene Glocke von der Wand. Während ihn die Jungfrau mit Klagen überhäufen will, entflieht er durch die Gänge, und hinter ihm wirft sich die Türe wieder zu, daß die Bergwand bebt. Jetzt steigt er nicht mehr weiter bergauf zu den Weidkühen, sondern hinunter ins Tal zum Lieseli; wenn er ihr die Goldglocke bringt, eine goldene Glocke zur Alpfahrt, so wird sie ihn ohne Umstände heiraten. Aber da er zur Liebsten kommt, hat die ihn längst vergessen, hat längst einen andern lieb gewonnen, hat den geheiratet und hat schon manches Kind von ihm.
Was soll der Bursche nun machen? Ruhelos geht er weiter, denkt an die ihn mit dem ersten Worte schon gefallen hatte, und nun erst möchte er Schlüssel und Schlüsselloch an der Bergwand wieder finden, um es diesmal gescheiter zu machen.
Er steigt mit seiner Goldglocke zur Alp und läutet auf allen Matten und Staffeln. Dies ist aber alles vergebens, er kommt darüber nur immer tiefer in die allerwildesten Berge hinein. Endlich erreicht er einmal Abends wieder eine Alphütte, vor der Türe spaltet ein steingrauer Mann eben Holz. Hier möchte er übernachten, er bittet ihn flehentlich darum und erzählt sein betrübtes Schicksal. Aber dieser Alte ist nichts weniger als gerührt, kaum hat er den Hergang zu Ende gehört, so jagt er den Burschen auf der Stelle davon. „Die Felsenjungfrau“, ruft er erzürnt, „ist meine eigne Tochter, nun muß sie wiederum ihre langen Fristen auf den Erlöser warten!“
(Sam. Beetschen aus Ringoldingen im Simmental.)
Quelle: E. L. Rochholz, Naturmythen. Neue Schweizer Sagen, Leipzig 1862.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch